Leitsatz (amtlich)
Unfallkosten sind nicht beruflich veranlaßt, wenn eine Arbeitnehmerin ihre nicht weit entfernt wohnende Freundin besucht, bei ihr nächtigt, von dort aus am nächsten Morgen zur Arbeitsstätte fährt und dabei einen Verkehrsunfall verursacht.
Orientierungssatz
Da Fahrten eines Arbeitnehmers zu seiner Arbeitsstätte nur dann beruflich veranlaßt sind, wenn es sich um Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG handelt, ist eine Fahrt nicht beruflich veranlaßt, wenn sie aus privaten Gründen nicht von der Wohnung, sondern von einem anderen Ort aus angetreten wird. Eine Wohnung i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG braucht nicht die eigene Wohnung des Steuerpflichtigen zu sein. Hat jedoch der Steuerpflichtige eine fremde Wohnung oder ein Hotelzimmer nur kurzfristig aufgesucht, so können diese Übernachtungsgelegenheiten als eigene Wohnung nur angesehen werden, wenn die Nächtigung ausschließlich zu dem Zweck geschah, um von dort morgens zur Arbeitsstätte zu gelangen (vgl. Rechtsprechung: BFH, FG Berlin, auch zu Fahrten zwischen Zweitwohnung und Arbeitsstätte).
Normenkette
EStG 1981 § 9 Abs. 1 Sätze 1, 3 Nr. 4, Abs. 1 Nr. 4
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) wohnt in A und arbeitet in der 12 km entfernten Stadt B. Sie besuchte am Sonntag, den 24.April 1983, eine Bekannte in C, bei der sie auch übernachtete. Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem PKW ihres Freundes von der Wohnung ihrer Freundin in C die 2 km lange Strecke nach B zu ihrer Arbeitsstätte. Unterwegs übersah sie ein Vorfahrtsschild und stieß mit einem LKW zusammen. Zur Abgeltung des Unfallschadens zahlte sie an den Freund als Eigentümer des PKW 4 000 DM Kfz-Kosten und an Anwaltskosten 569,15 DM.
Den Gesamtbetrag von 4 569,15 DM machte die Klägerin beim Lohnsteuer-Jahresausgleich für das Streitjahr 1983 als Werbungskosten bei ihren Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) ließ diese Kosten nicht zum Abzug zu. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte u.a. aus:
Die Fahrt der Klägerin am Sonntag, dem 24.April 1983, von A nach C sei privat veranlaßt gewesen, da sie ihre Freundin habe besuchen wollen. Diese private Veranlassung habe jedoch am nächsten Morgen geendet, als die Klägerin aufgebrochen sei, um zu ihrer Arbeitsstätte in B zu gelangen. Da ihre Zielvorstellung darauf gerichtet gewesen sei, zu ihrer 2 km entfernt liegenden Arbeitsstätte zu kommen, sei die Fahrt von C nach B beruflich veranlaßt gewesen; die dabei angefallenen Unfallkosten seien deshalb als Werbungskosten zu berücksichtigen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob auch ein Ansatz der normalen Fahrkosten nach § 9 Abs.1 Nr.4 des Einkommensteuergesetzes 1982 (EStG) hätte in Betracht kommen können. Denn die Klägerin habe solche Kosten nicht geltend gemacht.
Gegen das Urteil legte das FA Revision ein. Es ist der Ansicht, die Vorentscheidung verletze § 9 Abs.1 Satz 1 EStG.
Das FA beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet; denn das FG hat die Unfallkosten zu Unrecht als Werbungskosten zum Abzug zugelassen.
Kosten eines Verkehrsunfalls einschließlich dabei entstandener Anwaltsgebühren können nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) als Werbungskosten nach § 9 Abs.1 Satz 1 EStG berücksichtigt werden, wenn der Unfall sich auf einer beruflich veranlaßten Fahrt ereignet hat. Die Berücksichtigung ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitnehmer bewußt oder leichtfertig gegen Verkehrsvorschriften verstoßen hat (Beschluß des Großen Senats vom 28.November 1977 GrS 2-3/77, BFHE 124, 43, BStBl II 1978, 105).
Fahrten eines Arbeitnehmers zu seiner Arbeitsstätte sind beruflich veranlaßt, wenn es sich um Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs.1 Nr.4 EStG handelt. Aufwendungen wegen eines Unfalls auf einer solchen Fahrt werden auch dann als Werbungskosten nach § 9 Abs.1 Satz 1 EStG zum Abzug zugelassen, wenn die Fahrt mit dem eigenen Kraftwagen durchgeführt wird und die normalen Kfz-Kosten mit dem Pauschbetrag von 0,36 DM je Entfernungskilometer nach § 9 Abs.1 Nr.4 Satz 2 EStG abgegolten werden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 14.Juli 1978 VI R 158/76, BFHE 125, 553, BStBl II 1978, 595).
1. Wird eine Fahrt zur Arbeitsstätte aus privaten Gründen nicht von der Wohnung i.S. des § 9 Abs.1 Nr.4 EStG, sondern von einem anderen Ort aus angetreten, so ist sie nach dem Willen des Gesetzgebers nicht als beruflich veranlaßt zu würdigen, auch wenn der Arbeitnehmer sich von der Zielvorstellung hat leiten lassen, mit der Fahrt zu seiner Arbeitsstätte zu gelangen. § 9 Abs.1 Nr.4 EStG ist insoweit lex specialis zur Grundnorm des § 9 Abs.1 Satz 1 EStG. Die Vorschrift ist enger gefaßt als z.B. § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der den Versicherungsschutz bei einem Unfall auf dem "Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit" betrifft, wobei der Hinweg weder von der Wohnung aus angetreten werden noch der Rückweg bei der Wohnung enden muß (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 30.Oktober 1964 2 RU 157/63, BSGE 22, 60, 61).
Im Streitfall war die Fahrt der Klägerin von der Wohnung der Freundin in C zu ihrer Arbeitsstätte in B privat veranlaßt, weil sie aus privaten Gründen die Fahrt zur Arbeitsstätte nicht von ihrer Wohnung in A angetreten hatte.
Die beiden Fahrten, am Sonntag von A nach C und am Montag von C nach B, können nicht als Einheit in dem Sinne gewertet werden, daß die Klägerin von ihrer Wohnung in A über den Ort C zu ihrer Arbeitsstätte nach B gelangt ist. Denn dadurch, daß sie einen Teil des Sonntags bis Montag früh in der Wohnung ihrer Freundin in C aus privaten Gründen verbrachte, ist eine neue, der privaten Lebensführung zuzurechnende Ursachenkette von nicht untergeordneter Bedeutung entstanden, die entsprechend dem Aufteilungs- und Abzugsverbot des § 12 EStG (vgl. Beschlüsse des Großen Senats des BFH vom 19.Oktober 1970 GrS 2/70, BFHE 100, 309, BStBl II 1971, 17, und vom 19.Oktober 1970 GrS 3/70, BFHE 100, 317, BStBl II 1971, 21) zur Nichtberücksichtigung der Unfallkosten als Werbungskosten führt (vgl. auch v.Bornhaupt in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 9 Rdnr.B 215 ff., und Rdnr.B 444 ff. und die dort jeweils erwähnte Literatur und Rechtsprechung). Der Fall ist ähnlich dem eines aus privaten Gründen gefahrenen Umwegs auf einer Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Hier nimmt die Rechtsprechung eine Unterbrechung der beruflichen Veranlassung der Fahrt an (vgl. Beschluß des Großen Senats in BFHE 124, 43, BStBl II 1978, 105, 108, r.Sp.; BFH-Urteil vom 14.November 1986 VI R 79/83, BFHE 148, 310, BStBl II 1987, 275).
2. Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs.1 Nr.4 EStG können auch gegeben sein, wenn der Arbeitnehmer zwei Wohnungen besitzt, wenn die weiter vom Arbeitsplatz entfernt liegende Wohnung den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Arbeitnehmers darstellt, dieser aber die Fahrt zur Arbeitsstätte von der anderen, näher gelegenen Wohnung aus angetreten hat (vgl. BFH-Urteil vom 10.November 1978 VI R 21/76, BFHE 126, 511, BStBl II 1979, 219, 222 zu Abschn.2 b) ee) der Entscheidungsgründe).
Die Wohnung der Freundin, in der die Klägerin in der Nacht vom 24. zum 25.April 1983 übernachtete, kann jedoch nicht als Zweitwohnung im Sinne dieser Rechtsprechung gewürdigt werden.
Der Begriff "Wohnung" im § 9 Abs.1 Nr.4 EStG ist weit auszulegen (BFH-Urteil vom 20.Dezember 1982 VI R 64/81, BFHE 137, 463, BStBl II 1983, 306, 309 zu 2 b) aa). Unter die Vorschrift fallen grundsätzlich Fahrten von Unterkünften jeglicher Art, die von einem Arbeitnehmer zur Übernachtung benutzt werden und von denen aus er seinen Arbeitsplatz aufsucht (vgl. die bei Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer, Stichwort: Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, Abschn.A I 2, und bei Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 6.Aufl., 1987, § 9 EStG Anm.7 b erwähnten Beispiele aus der Rechtsprechung). Wohnung i.S. des § 9 Abs.1 Nr.4 EStG braucht nicht die eigene Wohnung des Steuerpflichtigen zu sein. Die Norm umfaßt daher auch Fahrten zur Arbeitsstätte von der Wohnung einer befreundeten Familie aus, in der der Arbeitnehmer z.B. wegen Renovierung der eigenen Wohnung für einige Tage übernachtet hat (vgl. Urteil des FG Berlin vom 20.Oktober 1970 III 639/67, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1971, 178). Wohnung ist z.B. auch das Hotelzimmer, in dem der Steuerpflichtige übernachtet, bis er eine eigene Wohnung am Arbeitsort gefunden hat (vgl. v.Bornhaupt, a.a.O., Rdnr. F 12).
Hat jedoch ein Steuerpflichtiger eine fremde Wohnung oder ein Hotelzimmer nur kurzfristig aufgesucht, wie hier nur für eine Nacht, so können diese Übernachtungsgelegenheiten als eigene Wohnung des Steuerpflichtigen im vorgenannten Sinne nur angesehen werden, wenn die Nächtigung ausschließlich zu dem Zweck geschah, um von dort aus morgens zur Arbeitsstätte zu gelangen.
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt, denn die Klägerin hatte sich am Sonntag, den 24.April 1983, aus privaten Gründen zur Wohnung ihrer Freundin in C begeben und ist auch aus privaten Gründen dort die Nacht über geblieben. Für die Übernachtung waren keine beruflichen Gründe maßgebend.
Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist. Die Sache ist entscheidungsreif. Da das FA im Ergebnis zu Recht die Unfallkosten nicht als Werbungskosten zum Abzug zugelassen hat, ist die Klage als unbegründet abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 62406 |
BStBl II 1988, 706 |
BFHE 153, 337 |
BFHE 1989, 337 |
BB 1988, 1594-1594 (L1) |
DB 1988, 1732-1733 (ST) |
DStR 1988, 647 (ST) |
HFR 1988, 509 (LT1) |