Leitsatz (amtlich)
Erklärt das FA einen Steuerbescheid hinsichtlich eines Teils der Bemessungsgrundlage für vorläufig i.S. des § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977, so ist der Umfang der Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung ggf. durch Auslegung zu ermitteln.
Orientierungssatz
Aus § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 folgt, daß eine beim FA in tatsächlicher Hinsicht bestehende subjektive Unsicherheit der Rechtsgrund für die Anordnung der Vorläufigkeit als Rechtsfolge sein muß. Grundsätzlich muß die Vorläufigkeit in einem Zusammenhang mit der Ungewißheit über den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt stehen. Dabei ist dem FA nur insoweit ein Ermessen eingeräumt, als es die Steuer vorläufig festsetzen kann. Es kann deshalb die Vorläufigkeit auf alle Besteuerungsfolgen ausdehnen, die noch in einem Zusammenhang mit der Ungewißheit über den verwirklichten Sachverhalt stehen. Es kann jedoch ebenso die Vorläufigkeit einschränken und z.B. bestimmte Folgerechtsfragen sofort endgültig entscheiden.
Normenkette
AO 1977 § 165 Abs. 1 S. 1; FGO § 118 Abs. 2
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die gemeinsam zur Einkommensteuer 1978 veranlagt wurden. Der Kläger betrieb bis zum 31.Dezember 1978 eine Textilwareneinzelhandlung. Diese übertrug er mit Ablauf des 31.Dezember 1978 auf seinen Schwiegersohn. Dabei überführte er das Geschäftsgrundstück in sein Privatvermögen.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) veranlagte die Kläger zunächst unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zur Einkommensteuer 1978, ohne den Entnahmevorgang in der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen. Am 25.Februar 1983 erließ das FA einen geänderten Einkommensteuerbescheid 1978 vorläufig gemäß § 165 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977). In dem Bescheid ist der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben. Die Überführung des Geschäftsgrundstückes in das Privatvermögen wurde als ein nach § 16 Abs.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu besteuernder Vorgang behandelt. Der Aufgabegewinn wurde mit rd. 120 000 DM ermittelt. Der Freibetrag gemäß § 16 Abs.4 EStG und die Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs.2 EStG wurden gewährt. In den Erläuterungen zum Steuerbescheid heißt es wörtlich:
"Die Festsetzung ist nach § 165 Abs.1 AO hinsichtlich des festgesetzten
Veräußerungsgewinns teilweise vorläufig, weil über die Höhe des
Verkehrswertes des entnommenen Grundstücks zum 31.12.1978 das Gutachten
des Finanzbauamtes abzuwarten ist."
Das Finanzbauamt ermittelte in der Folgezeit den Gewinn aus der Überführung des Grundstücks in das Privatvermögen mit rd. 107 000 DM. Dieser Wert wurde den Klägern mit Schreiben vom 12.Dezember 1983 mitgeteilt, wobei das FA erneut den Ansatz des Freibetrages gemäß § 16 Abs.4 EStG und der Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs.2 EStG in Aussicht stellte. Die Kläger erklärten sich im Schreiben vom 13.Dezember 1983 mit dieser Besteuerung einverstanden.
Das FA änderte jedoch mit Schreiben vom 17.Januar 1984 seine Rechtsauffassung. Es teilte den Klägern mit, es beabsichtige, dem Grunde nach nicht mehr von einem Aufgabegewinn, sondern von einem Entnahmegewinn auszugehen (Hinweis auf: Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19.Februar 1981 IV R 116/77, BFHE 133, 176, BStBl II 1981, 566). Das FA erließ am 28.Februar 1984 einen gemäß § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977 geänderten Einkommensteuerbescheid 1978. In diesem wurden wiederum ein Aufgabegewinn i.S. des § 16 Abs.3 EStG, der Freibetrag gemäß § 16 Abs.4 EStG und die Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs.2 EStG angesetzt. Aufgrund eines Eingabefehlers wurde jedoch der Aufgabegewinn um rd. 120 000 DM zu hoch angesetzt. In den Erläuterungen zum Bescheid heißt es abweichend von seinem Inhalt, daß der Gewinn nur mit rd. 107 000 DM anzusetzen und als Entnahmegewinn zu besteuern sei. Der Freibetrag könne nicht berücksichtigt werden.
Aufgrund eines Einspruchs der Kläger erließ das FA am 27.April 1984 eine Einspruchsentscheidung, in der die Steuerfestsetzung im Ergebnis herabgesetzt wurde. Es wurde der Gewinn aus der Überführung des Grundstücks in das Privatvermögen mit rd. 107 000 DM angesetzt und als Entnahmegewinn besteuert. Der Freibetrag gemäß § 16 Abs.4 EStG und die Steuerermäßigung gemäß § 34 Abs.2 EStG wurden nicht mehr gewährt.
Gegen den Bescheid vom 28.Februar 1984 in der Form der Einspruchsentscheidung erhoben die Kläger Klage, der das Finanzgericht (FG) stattgab.
Gegen dessen Entscheidung richtet sich die Revision des FA. Es rügt die Verletzung des § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG ist in revisionsrechtlich unbedenklicher Weise davon ausgegangen, daß der gegenüber den Klägern erlassene Einkommensteuerbescheid 1978 vom 25.Februar 1983 auf der Grundlage des § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977 nur hinsichtlich der Höhe des Gewinns aus der Überführung des Geschäftsgrundstücks, nicht jedoch hinsichtlich der Gewährung des Freibetrages gemäß § 16 Abs.4 EStG und der Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs.2 EStG geändert werden konnte.
1. Nach § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977 kann eine Steuerfestsetzung geändert werden, soweit die Finanzbehörde die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Nach den tatsächlichen und den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs.2 FGO) sind diese Voraussetzungen im Streitfall insoweit erfüllt, als das FA am 25.Februar 1983 den Einkommensteuerbescheid 1978 hinsichtlich des festgesetzten Veräußerungsgewinnes für teilweise vorläufig erklärte, weil über die Höhe des Verkehrswertes des entnommenen Grundstücks zum 31.Dezember 1978 das Gutachten des Finanzbauamtes abgewartet werden sollte. Der mit der Klage angefochtene Einkommensteuerbescheid vom 28.Februar 1984 betrifft in der Form der Einspruchsentscheidung vom 27.April 1984 die Änderung des Bescheides vom 25.Februar 1983. Der Bescheid erging endgültig nach § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977, nachdem die zuvor bezüglich des Verkehrswertes des Geschäftsgrundstückes bestehende Unsicherheit beseitigt war. Deshalb ist die Entscheidung über den Rechtsstreit von dem Umfang der Vorläufigkeit des Bescheides vom 25.Februar 1983 abhängig.
2. Nach § 165 Abs.1 Satz 1 AO 1977 kann eine Steuer insoweit vorläufig festgesetzt werden, als ungewiß war, ob und inwieweit die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten waren. Daraus folgt, daß eine beim FA in tatsächlicher Hinsicht bestehende subjektive Unsicherheit der Rechtsgrund für die Anordnung der Vorläufigkeit als Rechtsfolge sein muß. Grundsätzlich muß die Vorläufigkeit in einem Zusammenhang mit der Ungewißheit über den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt stehen. Dabei ist der Finanzbehörde nur insoweit ein Ermessen eingeräumt, als sie die Steuer vorläufig festsetzen kann. Sie kann deshalb die Vorläufigkeit auf alle Besteuerungsfolgen ausdehnen, die noch in einem Zusammenhang mit der Ungewißheit über den verwirklichten Sachverhalt stehen. Sie kann jedoch ebenso die Vorläufigkeit einschränken und z.B. bestimmte Folgerechtsfragen sofort endgültig entscheiden. Gegenstand des anhängigen Verfahrens ist allerdings nicht der Bescheid vom 25.Februar 1983, sondern der vom 28.Februar 1984 in der Form der Einspruchsentscheidung vom 27.April 1984. Deshalb kann hier nur über die Tatbestandswirkung des Bescheides vom 25.Februar 1983, nicht aber darüber geurteilt werden, ob und inwieweit am 25.Februar 1983 die Voraussetzungen für die damals angeordnete Vorläufigkeit des Bescheides bestanden. Der insoweit maßgebliche Umfang der Vorläufigkeit kann sich nur aus den Angaben im Bescheid vom 25.Februar 1983 ergeben.
3. Der Bescheid vom 25.Februar 1983 ist "hinsichtlich des festgesetzten Veräußerungsgewinnes" für vorläufig erklärt worden. Diese Formulierung ist insoweit objektiv unklar, als sie sich auf einen Teil der Bemessungsgrundlage und nicht --wie es § 165 Abs.1 Satz 2 AO in der bis zum 31.Dezember 1986 sowie § 165 Abs.1 Satz 3 AO in der ab dem 1.Januar 1987 geltenden Fassung (vgl. Art.1 Nr.24 des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 vom 19.Dezember 1985, BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735) an sich vorschreibt-- auf die festzusetzende Steuer bezieht. Deshalb ist der Umfang der Vorläufigkeit durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist zu beachten, daß das FA aufgrund der bei ihm am 25.Februar 1983 bestehenden subjektiven Unsicherheit über die Höhe des Verkehrswertes die teilweise Vorläufigkeit entweder für die auf den vermeintlichen Aufgabegewinn insgesamt entfallende Einkommensteuer oder aber nur für die aus einer Änderung des angenommenen Verkehrswertes des in das Privatvermögen überführten Geschäftsgrundstückes sich ergebende Einkommensteuer verfügen konnte. Welche von beiden Entscheidungen das FA am 25.Februar 1983 treffen wollte, war damals in sein Ermessen gestellt (vgl. BFH-Beschluß vom 22.Dezember 1987 IV B 174/86, BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 165 AO 1977 Rdnr.6). Das FG hat den Wortlaut der Erläuterungen zum Bescheid vom 25.Februar 1983 dahin gewürdigt, daß die teilweise Vorläufigkeit nur hinsichtlich der Einkommensteuer 1978 angeordnet wurde, die sich aus einer möglichen Änderung des angesetzten Verkehrswertes des in das Privatvermögen überführten Geschäftsgrundstückes ergeben konnte. Die Würdigung des Bescheides durch das FG läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen. Für sie spricht, daß nach dem Wortlaut der Erläuterungen die subjektive Ungewißheit beim FA nur bezüglich der Höhe des Verkehrswertes des in das Privatvermögen überführten Geschäftsgrundstückes bestand. Das FA konnte am 25.Februar 1983 über alle Folgerechtsfragen entscheiden, ohne daß es dazu weiterer Sachverhaltsermittlungen bedurft hätte.
4. Bezog sich aber die im Bescheid vom 25.Februar 1983 angeordnete Vorläufigkeit des Einkommensteuerbescheides 1978 nur auf die Einkommensteuer 1978, die sich aus einer Änderung des Verkehrswertes des in das Privatvermögen überführten Geschäftsgrundstückes ergab, so konnte das FA den Bescheid vom 25.Februar 1983 am 28.Februar 1984 bzw. am 27.April 1984 nicht zusätzlich hinsichtlich der Gewährung des Freibetrages gemäß § 16 Abs.4 EStG und der Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs.2 EStG ändern. Insoweit war die Steuerfestsetzung endgültig.
Fundstellen
Haufe-Index 62004 |
BFH/NV 1989, 5 |
BStBl II 1989, 130 |
BFHE 155, 8 |
BFHE 1989, 8 |
BB 1989, 1185-1186 (LT1) |
DB 1989, 412 (KT) |
HFR 1989, 181 (LT) |