Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Leitsatz (NV)
Eine Entscheidung, die sich auf einen im Verlauf des gesamten Verfahrens nicht angesprochenen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, verletzt den Anspruch der betroffenen Beteiligten auf rechtliches Gehör.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2, § 155; ZPO § 278 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgang.
1. Das Finanzgericht (FG) hat unter Bezugnahme auf die Entscheidung im ersten Rechtsgang die folgenden Feststellungen getroffen:
Der Rechtsvorgänger (S) der Kläger und Revisionskläger (Kläger) lieferte im Streitjahr 1973 Damenschuhe in die Niederlande, die -- was von den Klägern mit Nichtwissen bestritten wird -- von dort in die ehemalige DDR gelangten. Der Lieferauftrag wurde am 4. Mai 1973 von einer Firma W in Rotterdam erteilt und von S am 7. Mai 1973 unter Angabe der Preise bestätigt. Die W schloß ihrerseits am 30. Mai 1973 mit der Firma I in ... (ehemalige DDR) einen Vertrag über die Lieferung von Damenschuhen derselben Menge. Als Vermittlerin war dabei eine "Gesellschaft in Ost-Berlin" eingeschaltet, die nach Abwicklung des Geschäfts eine Kommission von 5 % erhielt. Die Schuhe wurden von einer Gesellschaft aus der DDR bei S abgenommen und von einem holländischen Spediteur in die Niederlande überführt. Dort wurden sie unter Zollverschluß genommen und später in die DDR verbracht. In den Ausfuhrerklärungen waren als Bestimmungsland die Niederlande und als Empfänger die W angegeben. S erteilte der W auch eine Rechnung ohne Umsatzsteuer-Ausweis. Nach Eingang der Zahlungen der I rechnete W mit S ab und behielt 3,5 % Kommission ein. S wurde zudem mit allen Kosten, auch denen der Abwicklung mit der I, belastet. W war von allen Risiken aus dem Geschäft freigestellt worden.
S behandelte diese Lieferung als steuerfreie Ausfuhrlieferung gemäß § 4 Nr. 1 i. V. m. § 6 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1973.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) ging demgegenüber davon aus, daß die Lieferung von S unmittelbar an die I in der DDR erfolgt sei. Die W sei nur zur Umgehung der Bestimmungen über den innerdeutschen Handel eingeschaltet worden. Es habe sich also nicht um eine steuerfreie Ausfuhrlieferung gehandelt. Entsprechend setzte das FA die Umsatzsteuer für das Streitjahr fest.
2. Die Klage hatte im ersten Rechtsgang keinen Erfolg. Das FG entschied, eine Ausfuhrlieferung habe nicht vorgelegen. Als Abnehmerin der Waren habe entsprechend einer Absprache mit S von vornherein die I festgestanden. W sei nur mit dem Ziel eingeschaltet gewesen, die Schuhe durch die Niederlande zu ihrer Abnehmerin in der DDR zu verbringen. Sie sei daher auch nicht als Kommissionär (§ 3 Abs. 3 UStG 1973) tätig gewesen.
Auf Revision des S hob der Bundesfinanzhof (BFH) das Urteil auf und verwies die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück. Die von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen seien nicht widerspruchsfrei und trügen nicht seine Entscheidung. Es sei nicht nachvollziehbar, wie das FG zu der Feststellung habe kommen können, daß sich S und I über die Lieferung geeinigt hätten, bevor W eingeschaltet worden sei, diese damit also auch als Kommissionär ausscheide. Dem FG wurde aufgegeben festzustellen, ob, wann und unter welchen Umständen S mit der I oder deren Vertretern über die Lieferung der Schuhe verhandelt, eine Einigung erzielt und ob er die Ware aufgrund einer solchen Einigung vom Inland über die Niederlande in die DDR versandt hat. Im einzelnen wird auf das BFH-Urteil vom 21. September 1988 V R 188/83 (BFH/NV 1989, 203) verwiesen.
3. Auch im zweiten Rechtsgang hatte die Klage keinen Erfolg. Das FG führte aus, vom FA vorgelegte (näher bezeichnete) Unterlagen belegten zweifelsfrei, daß S und I sich über alle wesentlichen Vertragspunkte des Liefergeschäfts geeinigt hatten, bevor W ihren Lieferauftrag erteilt habe. Vornehmlich in einem in bezug genommenen Fernschreiben der für die I "als Vertreterin tätig gewesenen Gesellschaft (Ost-Berlin)" (folgend T) an S vom 27. April 1973 sei angekündigt worden, in der nächsten Woche aus ... (Sitz der I) alle Einzelheiten fernschriftlich mitzuteilen, verbunden mit dem Zusatz: "Wir müßten sehen, daß wir den Vertrag in den wesentlichen Punkten fernschriftlich bis Freitag mittag zustandebringen." Darauf habe S der T als Vertreterin der I (am selben Tage) ebenfalls fernschriftlich die Preise für die ausgesuchten Modelle mitgeteilt, die bis 5. Mai 1973 verbindlich seien und alle Kosten im ersten Vertrag mit der I beinhalten sollten.
Allein diese Fernschreiben belegten, daß das Liefergeschäft ausschließlich zwischen S und I (über ihre Vertreterin T) ausgehandelt worden sei, und zwar bevor W an S den Lieferauftrag erteilt habe. Dies sei nämlich erst an dem im Fernschreiben der T erwähnten Freitagnachmittag erfolgt.
Einer Anhörung des K, des ehemaligen Prokuristen in der Firma des S, zu dieser Frage habe es aufgrund der eindeutigen Beweislage nicht bedurft, zumal auch die Kläger in der mündlichen Verhandlung darauf verzichtet und um Entscheidung nach Lage der Akten gebeten hätten.
4. Mit ihrer (vom Senat zugelassenen) Revision rügen die Kläger Verfahrensverstöße der Vorinstanz (Verletzung von §§ 76 und 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Das erstmals in der Vorentscheidung bezeichnete Vertretungsverhältnis und die getroffene Qualifizierung der T als Vertreterin der I sei eine Hypothese und werde vom Sachverhalt nicht getragen. Der T sei zwar unbestritten eine Vermittlerrolle zugekommen, dies aber im Verhältnis zwischen der W und I. Von W sei sie für die Vermittlungsleistung auch durch eine 5 %ige Agentenkommission bezahlt worden. Mangels der vom FG behaupteten Vertretereigenschaft der T mit Abschlußvollmacht könne es nicht zu einer Einigung zwischen S und I über die Lieferung gekommen sein. Wegen der Entscheidungserheblichkeit dieser Frage hätte das FG ein Vertretungsverhältnis nicht ohne weiteres unterstellen dürfen. Insoweit hätte sich der Vorinstanz vielmehr die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung aufdrängen müssen.
Zudem sei ihr (der Kläger) Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Denn das FG habe seine Entscheidung insoweit erstmals auf Behauptungen gestützt, die zuvor weder vom FA vorgetragen noch im Verlaufe des Verfahrens jemals erwähnt worden seien. Die Kläger hätten sich daher auch nicht dazu äußern können. Auch aus dem Protokoll über den Erörterungstermin sei nicht zu entnehmen, daß die Frage der Vertretereigenschaft der T angesprochen worden sei. Auf die Vernehmung des K hätten die Kläger verzichtet, da er auf Antrag des FA lediglich zu den Beziehungen des S zur I habe gehört werden sollen. Die Frage der Vertretereigenschaft der T sei zu diesem Zeitpunkt indessen nicht angesprochen gewesen.
Im übrigen seien die ersten Kontakte als Grundlage für das Liefergeschäft zwischen S und der W bereits Ende Februar 1973 geknüpft worden, wie sich aus Bestätigungsschreiben der W vom März 1973 ergebe. W habe von S vorweg eine Haftungsfreistellung für einen eventuell in der Zukunft zu schließenden Kaufvertrag mit I verlangt.
Wohin die Schuhe von den Niederlanden tatsächlich gelangt seien, entziehe sich der Kenntnis der Kläger.
Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und die Umsatzsteuer für das Streitjahr entsprechend ihrem Klageantrag niedriger festzusetzen, hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Das FG habe seine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts nicht verletzt. Denn für die Vorentscheidung sei nicht erheblich, in welcher Eigenschaft die T in die Verhandlungen mit S eingeschaltet gewesen sei. Auch wenn sie nur als Vermittlerin (ohne Unterschriftsvollmacht) aufgetreten sei, sei der Vertrag mit der I zustandegekommen, da die T die Einzelheiten des Vertragsabschlusses mit S in der Woche zwischen dem 27. April und 4. Mai 1973 fernschriftlich abgestimmt habe.
Auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Kläger liege nicht vor. Der BFH habe dem FG gerade aufgegeben festzustellen, ob eine Einigung über das Liefergeschäft zwischen S und der I "oder deren Vertretern" zustandegekommen sei. Auch der vom FA im Erörterungstermin gestellte Antrag, K als Zeugen zu vernehmen, hätte der Aufklärung dieses Punktes dienen sollen. Auf diese Zeugeneinvernahme hätten die Kläger in der mündlichen Verhandlung verzichtet. Da die Einschaltung der T jedenfalls als Vermittlerin bekannt gewesen sei, habe auf der Hand gelegen zu prüfen, ob und in welcher Funktion sie das Geschäft für die I ausgehandelt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet, sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die Kläger rügen jedenfalls zu Recht die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO).
1. Nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) haben die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch verpflichtet das Gericht einerseits, das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse zu stützen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten (§ 96 Abs. 2 FGO). Aber auch auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat (§ 278 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung -- ZPO -- i. V. m. § 155 FGO). Das Gericht verletzt daher seine Verpflichtung, rechtliches Gehör zu gewähren, wenn es seine Entscheidung für die Prozeßbeteiligten unvorhersehbar auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, der im bisherigen außergerichtlichen und gerichtlichen Verfahren noch nicht angesprochen worden ist, zu dem sich die Beteiligten nicht geäußert haben und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens zu einer Äußerung auch keine Veranlassung bestanden hat (BFH-Urteile vom 12. Juli 1972 I R 205/70, BFHE 107, 186, BStBl II 1973, 59; vom 19. September 1990 X R 79/88, BFHE 162, 199, BStBl II 1991, 100; vom 8. Dezember 1993 XI R 58/90, BFH/NV 1994, 391; BFH-Beschluß vom 1. März 1995 III B 84/93, BFH/NV 1995, 990). Zwar besteht keine allgemeine Hinweispflicht des FG in dem Sinne, daß es seine spätere rechtliche Beurteilung andeuten müsse. Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, die maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend zu erörtern, und andererseits nicht gehindert, rechtliche Gesichtspunkte, die im bisherigen Verfahren nicht im Vordergrund standen, in der Entscheidung als maßgeblich herauszustellen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 14. April 1978 2 BvR 238/78, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1, Rechtsspruch 160; BFH-Urteile vom 14. März 1989 I R 105/88, BFHE 157, 72, BStBl II 1989, 741, und vom 31. Juli 1991 VIII R 23/89, BFHE 165, 398, BStBl II 1992, 375). Dennoch muß sichergestellt sein, daß die Beteiligten sich vor Ergehen einer Entscheidung zum gesamten Sachverhalt und allen Rechtsfragen äußern können, also vor Überraschungsentscheidungen bewahrt bleiben (BFH-Urteile vom 20. Juni 1967 II 73/63, BFHE 90, 82, BStBl III 1967, 794, und vom 22. März 1972 II R 121/68, BFHE 105, 515, BStBl II 1972, 637; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 119 Anm. 10 a).
Im Streitfall hat das FG seine Entscheidung darauf gestützt, daß T als Vertreterin der I aufgetreten sei, daher den Liefervertrag mit S mit deren Vollmacht abgeschlossen habe. Dieser rechtliche Gesichtspunkt der Vertretung ist nach Aktenlage und dem unwidersprochenen Vorbringen der Kläger erstmals in der Urteilsbegründung angesprochen und dort zur tragenden Erwägung gemacht worden. Er ist im bisherigen Verfahren erkennbar nicht erörtert worden und mußte daher von den Klägern auch nicht als Eventualerwägung in Betracht gezogen werden. Das Verlangen des BFH aufzuklären, ob S mit I "oder deren Vertretern" über die Lieferung der Schuhe verhandelt hat, bedeutet keinen Hinweis darauf, daß die T als solche in Frage kam. Dasselbe gilt für den entsprechend formulierten Beweisantrag des FA, K als Zeugen zu hören.
Der Gesichtspunkt der Vertretereigenschaft der T war für die Vorentscheidung auch erheblich. Denn das Zustandekommen eines Lieferverhältnisses zwischen S und I setzt auch unter Zugrundelegung des Austauschs der Fernschreiben am 27. April 1973 eine entsprechende Vollmacht der T voraus. Ihre (unbestrittene) Eigenschaft als Vermittlerin war dafür entgegen der Ansicht des FA nicht aureichend. Von einer bloßen Vermittlerrolle einer "Gesellschaft aus Berlin-Ost" bei der Abwicklung des Geschäfts zwischen der I und W geht im übrigen auch der Tatbestand der Vorentscheidung aus.
Das vorinstanzliche Urteil bedeutet für die Kläger daher eine Überraschungsentscheidung, die ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
Wenn die Kläger ausführen, daß die (für sie überraschende) Annahme einer Vertreterstellung der T vom Sachverhalt nicht getragen werde, bringen sie damit zum Ausdruck, daß sie sich im Falle der vorherigen Gewährung rechtlichen Gehörs (möglicherweise unter Beweisantritt) gegen diese Annahme gewendet hätten. Einer weiteren Substantiierung ihres unterbliebenen Vortrags (vgl. BFH-Beschluß vom 2. September 1994 I B 245/93, BFH/NV 1995, 414; Gräber/Ruban, a. a. O., § 119 Anm. 13) bedarf es nicht.
2. Da die Vorentscheidung unter Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO) ergangen ist, ist sie aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Daneben kann offenbleiben, ob das FG, wie die Kläger rügen, seine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verletzt hat.
Das FG wird nach wie vor festzustellen haben, ob und aufgrund welcher Umstände ein unmittelbares Lieferverhältnis zwischen S und I begründet worden ist, bevor der Abschluß mit W zustande kam. Dabei sind die Funktion der T bei der Geschäftsabwicklung und die Frage ihrer Bevollmächtigung durch I unverändert von entscheidender Bedeutung. Insoweit kann unter Umständen eine nachgeholte Vernehmung des K als Zeuge Aufschluß geben. Ggf. wird das FG auch der Frage nachzugehen haben, ob bereits vor April 1973 Kontakte zwischen S und der W mit dem Ziel des Abschlusses eines Liefervertrages bestanden haben.
3. Der von den Klägern zusätzlich gestellte Antrag, die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO), kann im Revisionsverfahren nicht mehr gestellt werden (Gräber/Ruban, a. a. O., 3. Aufl., § 139 Anm. 32, m. w. N.).
Fundstellen
Haufe-Index 421329 |
BFH/NV 1996, 573 |