Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenzen der Anwendung des § 129 Satz 1 AO 1977
Leitsatz (NV)
Die Berichtigung eines Bescheides gemäß § 129 Satz 1 AO 1977 hat u. a. zur Voraussetzung, daß sich die Möglichkeit, die Unrichtigkeit zu erkennen und zu berichtigen, gewissermaßen ,,mechanisch" ergibt.
Normenkette
AO 1977 § 129 S. 1, § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 173 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
In ihren Umsatzsteuervoranmeldungen 1979 (Streitjahr) hatte die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) Umsätze von über 900 000 DM angegeben und die Umsatzsteuer auf insgesamt 70 485,95 DM errechnet. Da sie die Umsatzsteuerjahreserklärung 1979 nicht rechtzeitig einreichte, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Umsatzsteuer 1979 mit Bescheid vom 11. Juni 1981 auf 3780 DM fest. Dieser Festzsetzung lagen ein auf 50 000 DM geschätzter Umsatz sowie Vorsteuerbeträge in Höhe von 1000 DM zugrunde. Der Eingabewertbogen wurde am 15. April 1981 abschließend gezeichnet. Der Bescheid blieb unangefochten.
Am 15. April 1981 ging beim FA die Jahressteuererklärung 1979 der Klägerin ein. In ihr war die Umsatzsteuer aufgrund einer im Verhältnis zu den Voranmeldungen größeren Vorsteuersumme mit 54 734,10 DM errechnet. Das FA setzte daraufhin durch geänderten, auf § 172 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Bescheid vom 17. September 1981 die Umsatzsteuer erklärungsgemäß fest.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wurde vom Finanzgericht (FG) mit der Begründung abgewiesen, das FA habe den angefochtenen Bescheid erlassen dürfen. Die Änderung lasse sich allerdings nicht auf § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a bzw. auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 stützen. Sie finde jedoch eine Rechtsgrundlage in § 129 AO 1977. Der Sinn dieser Vorschrift sei es, einem FA unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit zu geben, an die Stelle einer ursprünglichen, als fehlerhaft erkannten Festsetzung eine neue Steuerfestsetzung treten zu lassen, bei der gewisse Besteuerungsgrundlagen, sei es der Umsatz und/oder die Vorsteuern, geändert würden. Unter den gegebenen Umständen liege ein einem Ablesefehler ähnliches Versehen vor. Das FA habe Besteuerungsgrundlagen, die beim Erlaß des Schätzungsbescheides infolge einer offenbaren Unrichtigkeit nicht erkannt und daher bei der Schätzung nicht berücksichtigt worden seien, nach Aufdeckung der Unrichtigkeit korrigiert, und zwar nicht durch Ansatz der Besteuerungsgrundlagen aus den Voranmeldungen, sondern durch Heranziehung der für die Klägerin günstigeren Angaben in deren Jahreserklärung.
Aufgrund der Beweisaufnahme werde als erwiesen angesehen, daß die damalige Sachbearbeiterin die Ergebnisse der Voranmeldungen nur aus Versehen nicht bei der Veranlagung berücksichtigt habe, sei es weil die Voranmeldungen bzw. der betreffende Jahresbogen übersehen worden seien, sei es, daß infolge nicht näher geklärter Umstände bei der Veranlagung angenommen worden sei, der Jahresbogen sei bereits überprüft worden. Die Annahme, die Ergebnisse der Voranmeldungen könnten bewußt außer Ansatz geblieben sein, sei widerlegt.
Nichts Gegenteiliges ergebe der Hinweis der Klägerin darauf, daß eine fehlerhafte oder oberflächliche Veranlagungsmethode keine Änderung nach § 129 AO 1977 rechtfertigen könne. Dies sei zwar insoweit zutreffend, als im Falle eines Sachbearbeiters, der grundsätzlich Schätzungen ohne Rücksicht auf vorliegende Voranmeldungen oder sonstige erkennbare Tatsachen vornehme, eine Berichtigung nach § 129 AO 1977 ausgeschlossen sei; denn dieser habe Tatsachen nicht übersehen, sondern bewußt und aus Gleichgültigkeit unberücksichtigt gelassen. Ein derartiger Fall dürfte allerdings praktisch so gut wie ausgeschlossen sein. Nach seinen, des FG, Erfahrungen sei es allgemeine Übung, daß Sachbearbeiter zu den Umsätzen aufgrund der Voranmeldungen sogar einen Sicherheitszuschlag hinzuschätzten. Die als Zeugin vernommene damalige Sachbearbeiterin habe jedenfalls Voranmeldungen stets berücksichtigt, so daß es sich im vorliegenden Fall nur um ein rein mechanisches Übersehen handeln könne.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 129 AO 1977.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Klägerin werden die Vorentscheidung, der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung aufgehoben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FA hat § 129 Satz 1 AO 1977 unzutreffend ausgelegt und angewendet.
1. Der erkennende Senat folgt dem FG darin, daß der angefochtene geänderte Umsatzsteuerbescheid 1979 nicht auf den vom FA im Bescheid angeführten § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 gestützt werden kann. Durch die Abgabe der Umsatzsteuerjahreserklärung 1979 hat die Klägerin lediglich ihrer Erklärungspflicht genügt, nicht etwa i. S. des § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 der Änderung eines Steuerbescheids zugestimmt oder einen entsprechenden Antrag gestellt. Hiervon kann nicht ausgegangen werden, weil die Klägerin bei der Fertigung und Einrichtung ihrer Umsatzsteuererklärung 1979 weder wußte, daß der auf der Schätzung beruhende Umsatzsteuerbescheid 1979 gegen sie ergehen würde noch mit dem Erlaß eines Bescheides gleichen Inhalts hat rechnen können.
Das FG hat ferner zutreffend angenommen, daß der Erlaß des angefochtenen Bescheides nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt werden kann; denn mit Rücksicht auf die dem FA beim Erlaß des angefochtenen Bescheides vorliegenden Umsatzsteuervoranmeldungen für die Voranmeldungszeiträume des Jahres 1979 können die Angaben der Klägerin in der Umsatzsteuerjahreserklärung 1979 jedenfalls nicht als nachträglich bekanntgewordene Tatsachen oder Beweismittel angesehen werden, die zu einer höheren Steuer führen.
2. Nicht zu folgen vermag der Senat dem FG darin, daß das FG aufgrund des § 129 Satz 1 AO 1977 den angefochtenen Bescheid hätte erlassen dürfen.
a) Nach der bezeichneten Vorschrift kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) setzt das Tatbestandsmerkmal ,,ähnliche offenbare Unrichtigkeiten" voraus, daß die Unrichtigkeit einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlich ist, d. h. daß es sich um einen ,,mechanischen" Fehler handelt, der ebenso ,,mechanisch", also ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden kann (vgl. Urteil vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, unter 1., m. w. N., BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785; Beschluß vom 12. März 1986 II R 190/83, BFH/NV 1987, 412; Urteile vom 27. März 1987 VI R 63/84, BFH/NV 1987, 480; vom 4. August 1988 IV R 78/86, unter 2. a, BFH/NV 1989, 281).
b) Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Es kann dahingestellt bleiben, ob einer alleinigen Heranziehung des § 129 Satz 1 AO 1977 als Änderungsgrundlage nicht schon deshalb der Erfolg versagt werden müßte, weil das FA gar nicht denjenigen Umsatzsteuerbetrag festgesetzt hat, der vermutlich festgesetzt worden wäre, falls die Voranmeldungen der Klägerin für das Streitjahr nicht versehentlich unberücksichtigt geblieben wären, sondern einen Betrag, der überhaupt erst später aufgrund der eingereichten Umsatzsteuerjahreserklärung in Betracht kam. Hierauf braucht jedoch nicht weiter eingegangen zu werden; denn es fehlt jedenfalls an der § 129 Satz 1 AO 1977 zu entnehmenden Voraussetzung einer sich gewissermaßen ,,mechanisch" ergebenden Möglichkeit, die Unrichtigkeit zu erkennen und zu berichtigen (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1987, 480, und in BFH/NV 1989, 281, unter 2. a).
Das FG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß im Falle einer Steuerfestsetzung bei fehlender Umsatzsteuerjahreserklärung zwar die Voranmeldungen herangezogen werden, daß aber nicht etwa die Summen der einzelnen Besteuerungsgrundlagen aus den Voranmeldungen unverändert in die Steuerfestsetzung eingehen, sondern daß ganz allgemein Hinzuschätzungen vorgenommen werden. Dementsprechend hat das Übersehen der Voranmeldungen nicht ,,mechanisch" dazu geführt, daß die Summen der Besteuerungsgrundlagen aus den Voranmeldungen nicht in die Umsatzsteuerfestsetzung aufgenommen worden sind; die Unrichtigkeit der sich ergebenden Steuerfestsetzung bestand vielmehr darin, daß das FA von anderen - vermutlich griffweise zugrunde gelegten - Schätzungsgrundlagen ausgegangen ist. Dementsprechend kam als Korrektur auch nicht eine ,,mechanisch" zu bewerkstelligende Berichtigung in Betracht; vielmehr hätten die vermutlich griffweise ermittelten Besteuerungsgrundlagen durch die Summen der Besteuerungsgrundlagen aus den Voranmeldungen, diese ergänzt durch Hinzuschätzungen, ersetzt werden müssen. Für eine Berichtigung in diesem Sinne bietet § 129 Satz 1 AO 1977 jedoch keine Handhabe.
Das Ergebnis hätte das FA vermeiden können, wenn es der Umsatzsteuerfestsetzung mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen den Vorbehalt der Nachprüfung hinzugefügt hätte.
3. Da der Senat durcherkennen kann, war nicht nur die Vorentscheidung, sondern auch der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 417051 |
BFH/NV 1992, 711 |