Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des Betriebsübernehmers
Leitsatz (NV)
1. Die Verfahrensrüge, das rechtliche Gehör sei verletzt, hat keinen Erfolg, wenn es auf den Gegenstand der Verfahrensrüge unter keinem denkbaren Gesichtpunkt ankommt.
2. Die Übereignung eines Unternehmens im ganzen (§ 116 AO, § 75 AO 1977) setzt bei im Unternehmensvermögen befindlichen Betriebsgrundstücken voraus, daß diese an den Erwerber übereignet werden. Eine Vermietung (Verpachtung) reicht nicht aus.
Normenkette
AO § 116; AO 1977 § 75; FGO § 119 Nr. 3
Tatbestand
Der Schwiegervater des Klägers unterhielt bis zum 31. Dezember 1975 einen Omnibusbetrieb (16 Busse) mit angeschlossenem Schulbus- und Linienverkehr. Der Kläger, der gelernter Kraftfahrzeugmechaniker ist, war bis dahin bei seinem Schwiegervater als Leiter der zu dem Betrieb gehörenden Reparaturwerkstatt angestellt. Zu dem Betriebsvermögen des Unternehmens gehörte ein Betriebsgrundstück mit einer Halle, in deren vorderem Teil sich die Omnibusgarage, die Werkstatt und die Büros befanden, während der rückwärtige Teil an einen Dritten vermietet war.
Anfang 1976, kurz vor seinem Tode, schloß der Schwiegervater mit dem Kläger einen Vertrag, in dem es heißt:
,,Hiermit verkaufe ich aus meinem Vermögen an . . . (Name des Klägers) meinen Reisebusbetrieb mit angeschlossenem Schulbus- und Linienverkehr, der Werkstatteinrichtung, aller Ersatzteile und Vorräte und Konzessionen, jedoch ohne Grundstück und Halle. Der Preis und die übernommenen Verbindlichkeiten ergeben sich aus der Eröffungsbilanz zum 5. 1. 1976 . . . Herr . . . (Name des Klägers) mietet die von meinem Omnibusbetrieb bisher genutzten Räume mit besonderem Vertrag."
Das FA erließ gegen den Kläger als Betriebsübernehmer (§ 116 - AO -) am 31. Oktober 1977 einen Haftungsbescheid wegen rückständiger Umsatzsteuer 1975 und am 20. Januar 1978 einen solchen wegen rückständiger Lohnsteuer für April und Oktober 1975.
Das FG wies die mit dem Ziel der Aufhebung der Haftungbescheide erhobenen Klagen ab. Es führte aus, die Voraussetzungen für die Haftung nach § 116 AO seien erfüllt, weil der Kläger das Unternehmen seines Schwiegervaters im ganzen übernommen habe.
Daran ändere auch der Umstand nichts, daß das Betriebsgrundstück mit der darauf befindlichen Halle dem Kläger nicht übereignet worden sei. Denn das Grundstück sei keine wesentliche Betriebsgrundlage des Unternehmens gewesen, was sich daraus ergebe, daß die Halle nicht auf die speziellen Bedürfnisse eines Omnibusunternehmens zugeschnitten und in ihrem rückwärtigen Teil sogar an einen Dritten vermietet gewesen sei. Habe es sich aber bei dem Betriebsgrundstück nicht um eine wesentliche Betriebsgrundlage gehandelt, so sei dessen Verbleib im Eigentum des Schwiegervaters ohne Bedeutung für die Haftung des Betriebsübernehmers nach § 116 AO. Schließlich könne sich der Kläger nicht mit Erfolg darauf berufen, daß es sich bei dem Unternehmen des Schwiegervaters wegen bei Betriebsübergabe bereits vorhanden gewesener Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung um einen nicht mehr lebenden Betrieb gehandelt habe. Denn auch ein zahlungsunfähiges bzw. überschuldetes Unternehmen könne fortgesetzt werden, wie sich gerade im Streitfall darin zeige, daß nach der Betriebsübernahme zunächst erhebliche Umsätze und Gewinne erzielt worden seien.
Mit der Revision verfolgt der Kläger das Klagebegehren weiter. Er rügt Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 der FGO) und unrichtige Anwendung von § 116 AO.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg.
1. Die Verfahrensrüge greift allerdings nicht durch. Selbst wenn das FG bei Beurteilung der Frage, ob der Kläger ein lebendes (oder ein sterbendes) Unternehmen von seinem Schwiegervater übernommen hat, auf Erkenntnisquellen zurückgegriffen haben sollte, zu denen der Kläger mangels ordnungsmäßiger Einführung in den Prozeßstoff im finanzgerichtlichen Verfahren keine Stellung nehmen konnte, käme eine Zurückverweisung an das FG nicht in Betracht. Denn die genannte Frage - lebender oder sterbender Betrieb? - kann nur dann auftauchen, wenn zunächst die ihr materiell-rechtlich vorgeordnete Frage des Vorliegens einer Betriebsveräußerung ohne Einschränkung bejaht werden kann. Dies ist hier aber - wie aus den nachstehenden Ausführungen unter Ziffer 2 ersichtlich - gerade nicht der Fall. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann es auf die den Gegenstand der Verfahrensrüge bildende Rechtsfrage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen. Eine Zurückverweisung der Sache scheidet daher aus (vgl. Gräber, FGO, § 119 Tz. 6 F. S. 388 mit zahlreichen Hinweisen).
2. In der Sache selbst ist der Revision der Erfolg nicht zu versagen, weil es im Gegensatz zur Auffassung des FG an den Voraussetzungen des hier noch einschlägigen § 116 AO (vgl. § 11 von Art. 97 EGAO 1977) fehlt. Die Übereignung eines Unternehmens bedeutet nach dieser Vorschrift den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens, d. h. der durch das Unternehmen repräsentierten organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen, die dem Unternehmen dienen oder mindestens seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so daß der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann. Gehören zu den wesentlichen Grundlagen des Unternehmens des Steuerschuldners in dessen Eigentum stehende bewegliche Sachen oder Grundstücke, so müssen diese zur Erfüllung der haftungsbegründenden Voraussetzungen des § 116 AO nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches an den Erwerber übereignet werden (vgl. Urteil des BFH vom 16. März 1982 VII R 105/79, BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483). Die Übertragung eines eigentümerähnlichen Herrschaftsverhältnisses kann einer sachenrechtlich gebundenen Übereignung nur bei solchen Wirtschaftsgütern gleichgestellt werden, die als solche nicht eigentumsfähig sind, die aber Gegenstand ertragbringender wirtschaftlicher Tätigkeiten sein können (wie z. B. Erfahrungen, Geheimnisse, Beziehungen zu Kunden usw.; vgl. hierzu Tipke/Kruse, AO/FGO, 11. Aufl., Tz. 7 zu § 75 AO 1977 am Ende). Der gegenteiligen Auffassung des FA, die diesen Gesichtspunkt auch auf eigentumsfähige Wirtschaftsgüter erweiternd anwenden möchte, schließt sich der erkennende Senat nicht an.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kommt der Senat abweichend von der Auffassung des FG zu dem Ergebnis, daß jedenfalls nicht alle wesentlichen Grundlagen des Unternehmens des Schwiegervaters als Steuerschuldner auf den Kläger übertragen worden sind. Zu den wesentlichen Grundlagen dieses Unternehmens gehörten die Betriebsräume, in denen der Geschäftsbetrieb ausgeübt wurde, also die Betriebshalle (Unterstellung der Busse und Reparaturwerkstatt sowie Büroräume), die sich auf dem im Eigentum des Steuerschuldners stehenden Betriebsgrundstück befand. Das Eigentum am Betriebsgrundstück ist - zufolge den revisionsrechtlich bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) - nicht auf den Kläger übertragen worden, sondern bei dem Schwiegervater verblieben. Damit ist eine der Grundlagen des Omnibusunternehmens - und zwar eine wesentliche - nicht auf den Kläger übergegangen. Schon aus diesem Grunde entfällt eine Anwendung von § 116 AO. Selbst wenn man davon ausgeht, daß der Kläger die Betriebshalle noch zu Lebzeiten des Schwiegervaters von diesem angemietet hätte, würde dies nach den obigen Ausführungen nicht ausreichen, um eine Übereignung des Unternehmens im ganzen (§ 116 AO) anzunehmen. Die Verschaffung eines lediglich obligatorischen Nutzungsverhältnisses (Miete, Pacht) anstelle einer Übereignung ist nur dann ausreichend, wenn der Betrieb schon von dem bisherigen Inhaber auf der Grundlage eines solchen Nutzungsverhältnisses ausgeübt worden war (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats in BFHE 135, 239, 243, BStBl II 1982, 483). Bei dieser Sachlage ist es ohne Belang, ob und inwieweit das Betriebsgrundstück unabhängig von der Nutzung durch das Omnibusunternehmen noch - zusätzlich und daneben - für andere Zwecke verwendet worden ist.
Scheidet aber - wie vorstehend dargetan - die Anwendung von § 116 AO schon wegen der fehlenden Übereignung des Betriebsgrundstücks aus, so erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob und inwieweit möglicherweise auch aus anderen Gründen (wie fehlender Überleitung von Geschäftsbeziehungen und Kundenstamm) die Übereignung eines Unternehmens nach § 116 AO entfallen könnte.
3. Da das FG zu einem anderen Ergebnis gelangt ist, ist seine Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Haftungsbescheide des FA vom 31. Oktober 1977 (betr. Umsatzsteuer 1975) und vom 20. Januar 1978 (betr. Lohnsteuer April und Oktober 1975) in Form der Einspruchsentscheidungen vom 2. Juli 1979 sind ersatzlos aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Fundstellen