Entscheidungsstichwort (Thema)
Wohnsitz eines im Ausland festgehaltenen Kindes
Leitsatz (NV)
- Hält ein türkischer Vater sein Kind gegen den Willen der sorgeberechtigten Mutter in der Türkei fest, hat das Kind seinen bisherigen inländischen Wohnsitz in der Wohnung der Mutter nur aufgegeben, wenn die Umstände darauf schließen lassen, das Kind werde nicht zurückkehren.
- Leitet die Mutter umgehend die erforderlichen Schritte für die Rückführung des Kindes ein, ist die Würdigung der Gesamtumstände dahin, zumindest für eine Übergangszeit von sechs Monaten nach Beginn des zwangsweisen Festhaltens des Kindes in der Türkei müsse nicht davon ausgegangen werden, dieses werde nicht nach Deutschland zurückkehren, nicht zu beanstanden.
- Die Prognoseentscheidung des FG über die Rückkehr des Kindes ist vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1; AO 1977 § 8
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bezog bis einschließlich Dezember 1997 Kindergeld für ihren am … 1992 geborenen Sohn. Mit ihrem Einverständnis nahm ihr Ehemann, von welchem sie seit Februar 1997 getrennt lebte, den Sohn im August 1997 für einen vierwöchigen Urlaub in die Türkei mit, kehrte aber nicht wieder mit dem Sohn in die Bundesrepublik zurück. Die Klägerin, die mit Urteil des Amtsgerichts S vom … von ihrem Ehemann geschieden und der das elterliche Sorgerecht für ihren Sohn übertragen worden ist, teilte dem Beklagten und Revisionskläger (Beklagter) mit Schreiben vom 17. September 1997 mit, ihr geschiedener Mann halte das Kind in der Türkei gegen ihren Willen fest und sie habe einen in der Türkei ansässigen Rechtsanwalt zur Rückführung des Kindes eingeschaltet.
Der Beklagte hob daraufhin mit Bescheid vom 20. Juli 1998 die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von August 1997 bis Dezember 1997 und für den Zeitraum ab Januar 1998 auf und forderte das für die Zeit von August 1997 bis Dezember 1997 gezahlte Kindergeld nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zurück. Für den Zeitraum ab Januar 1998 unterblieb eine Rückforderung, weil nach Dezember 1997 keine Kindergeldzahlung mehr erfolgt war. Der dagegen erhobene Einspruch hatte lediglich insoweit Erfolg, als der Beklagte die Kindergeldfestsetzung erst ab September 1997 aufhob. Im Übrigen blieb der Beklagte bei seiner Auffassung, nachdem der Kindesvater nach Beendigung des Urlaubs im August 1997 den Sohn der Klägerin in der Türkei festgehalten habe, könne nicht mehr davon ausgegangen werden, der Sohn habe noch einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Demgemäß bestehe nach § 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kein Anspruch auf Kindergeld mehr.
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Zahlung von Kindergeld bis einschließlich März 1998.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 747 veröffentlichten Urteil vom 10. April 2000 insoweit statt, als es der Klägerin Kindergeld für die Monate September 1997 bis Februar 1998 zugestand. Im Übrigen wies das FG die Klage ab.
Das FG entschied, der Sohn der Klägerin habe ab März 1998 keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt mehr im Inland gehabt, sodass der Klägerin ab diesem Zeitpunkt kein Anspruch auf Kindergeld mehr zugestanden habe.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision, die Vorentscheidung stehe mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zum Begriff des "Wohnsitzes" i.S. des § 8 AO 1977 nicht im Einklang und verletze § 63 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 62 Abs. 1 EStG.
Der Beklagte beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Rechtsfehlerfrei hat das FG entschieden, dass der Klägerin für ihren Sohn Kindergeld zumindest bis einschließlich Februar 1998 gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG zusteht. Nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG werden Kinder zwar nicht berücksichtigt, wenn sie weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet. Die Entscheidung des FG, der Sohn der Klägerin habe trotz seines erzwungenen Aufenthalts in der Türkei zumindest bis einschließlich Februar 1998 seinen Wohnsitz bei seiner Mutter im Inland gehabt, ist aus revisionsrechtlicher Sicht jedoch nicht zu beanstanden.
1. Was unter Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG zu verstehen ist, beurteilt sich nach den §§ 8, 9 AO 1977. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung sind für die Auslegung dieser Vorschriften melderechtliche Normen sowie bürgerlich-rechtliche Vorschriften zur Begründung, Beibehaltung und Aufgabe eines Wohnsitzes unmaßgeblich (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BFHE 178, 294, BStBl II 1996, 2, 3). Einen Wohnsitz hat jemand nach § 8 AO 1977 dort, wo er eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.
Dass der Sohn der Klägerin bis zu seinem erzwungenen Aufenthalt in der Türkei ab September 1997 seinen Wohnsitz in der Wohnung seiner Mutter im Inland hatte, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Für den Zeitraum September 1997 bis Februar 1998 stünde der Klägerin deshalb Kindergeld nur dann nicht zu, wenn ihr Sohn seinen Wohnsitz in Deutschland aufgegeben hätte.
a) Wie der erkennende Senat bereits mit Urteilen vom 19. März 2002 VIII R 52/01 (BFH/NV 2002, 1148) und VIII R 62/00 (BFH/NV 2002, 1146) erläutert hat, hat der Reichsfinanzhof (RFH) zu dem nahezu mit § 8 AO 1977 wortgleichen § 13 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) entschieden, dass die Aufgabe des Wohnsitzes im Inland vollzogen sei, sobald Umstände eingetreten seien, die erkennen ließen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde (Entscheidungen vom 16. März 1939 III 49/39, RStBl 1939, 537, 538; vom 23. Februar 1939 III 41/39, RStBl 1939, 643, 644; vom 8. Dezember 1939 III 299/38, RStBl 1939, 328). Bei einer Auslandsreise könne dies der Zeitpunkt der Ausreise oder ein späterer Zeitpunkt sein, wenn sich der Steuerpflichtige zunächst nur vorübergehend im Ausland aufgehalten habe (vgl. Entscheidung vom 27. Juli 1938 III 193/38, RStBl 1938, 1076, 1077). Bei einem ursprünglich vorübergehenden Auslandsaufenthalt sei dann entscheidend, in welchem Zeitpunkt Umstände eingetreten seien, die die Annahme rechtfertigen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde (RFH in RStBl 1938, 1076, 1077). Die Würdigung, ob die festgestellten Umstände erkennen ließen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde, liege auf tatsächlichem Gebiet, sei daher Aufgabe der Tatsacheninstanz und vom RFH nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. RFH-Entscheidungen vom 24. Oktober 1935 III A 234/35, RStBl 1935, 1395; vom 18. Februar 1937 III A 183/36, RStBl 1937, 382; in RStBl 1939, 537, 538; in RStBl 1938, 1076, 1077; in RStBl 1939, 643, 644).
b) Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich mit dem Wohnsitz eines Kindes im Zusammenhang mit § 2 Abs. 5 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) befasst. Danach werden Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, nicht berücksichtigt. Das BSG hat zu dieser Vorschrift i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I), der mit der Legaldefinition des § 8 AO 1977 wörtlich übereinstimmt, entschieden, dass Kinder keinen Wohnsitz im Inland haben, wenn sie von ihrem algerischen Vater gegen den Willen der sorgeberechtigten Mutter zu seinen Eltern gebracht worden sind und dort leben (Urteil vom 14. April 1983 10 RKg 15/82, SozSich 1984, RsprNr. 3794). Der Wille der sorgeberechtigten Mutter sei ohne Bedeutung, weil ein nicht realisierbarer Wille nicht zur Begründung oder Beibehaltung eines Wohnsitzes führen könne. Unerheblich sei auch, ob die Entfernung aus dem Heimatland freiwillig oder unfreiwillig geschehen sei.
Das BSG hat zur verfahrensrechtlichen Situation aufgeführt, dass sich in Anwendung des § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtung entscheiden lasse, ob jemand seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG habe (Urteile vom 17. Mai 1989 10 RKg 19/88, BSGE 65, 84, 86; vom 30. September 1996 10 RKg 29/95, BSGE 79, 147, 148). Die Prognose und die Feststellung der dafür erheblichen Anhaltspunkte obliege den Tatsachengerichten. Es handele sich um die Feststellung einer hypothetischen Tatsache, die im Revisionsverfahren mit Verfahrensrügen angegriffen werden könne und die nur dann rechtsfehlerhaft sei, wenn das Gericht ―unter Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung oder unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht― die zugrunde zu legenden Fakten nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt habe, bzw. wenn die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruhe (vgl. BSG in BSGE 65, 84, 87; in BSGE 79, 147, 151).
c) Auch der BFH geht davon aus, dass die Entscheidung, ob jemand eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird, eine Prognose, d.h. eine Schlussfolgerung aus den festgestellten Umständen auf ein zukünftiges Verhalten, erfordert (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294, 296). Prognoseentscheidungen des FG werden revisionsrechtlich den tatsächlichen Feststellungen i.S. des § 118 Abs. 2 FGO zugeordnet und sind deshalb vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 9. Mai 2000 VIII R 77/97, BFHE 192, 445, BStBl II 2000, 660, 662; BFH-Beschluss vom 14. April 2000 X B 118/99, BFH/NV 2000, 1333, 1334). Sie sind vom FG unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles (§ 96 Abs. 1 FGO) zu treffen (vgl. BFH-Urteile vom 30. August 1989 I R 215/85, BFHE 158, 118, BStBl II 1989, 956; in BFHE 178, 294, BStBl II 1996, 2, 3).
2. Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist für die Entscheidung, ob ein Kind, dass von einem Elternteil gegen seinen Willen im Ausland festgehalten wird, den bisherigen inländischen Wohnsitz i.S. des § 8 AO 1977 aufgegeben hat, ausschlaggebend, ob die Umstände darauf schließen lassen, dass das Kind nicht zurückkehren wird. Von dieser Voraussetzung ist im Streitfall auch das FG ausgegangen. Dabei ist seine Auffassung, zumindest bis einschließlich Februar 1998 hätten die Umstände nicht den Schluss zugelassen, der Sohn der Klägerin werde nicht in deren Wohnung zurückkehren, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin, nachdem sie erkannt hatte, dass ihr geschiedener Mann ihren Sohn in der Türkei festhält, umgehend alle erforderlichen Schritte eingeleitet hat, um für die Rückführung ihres Sohnes Sorge zu tragen. Demgemäß hat ihr noch im Juni 1998 das Amtsgericht S im Rahmen des Ehescheidungsverfahrens die elterliche Sorge für ihren Sohn übertragen, obwohl dem Amtsgericht bekannt war, dass der Vater des Kindes den Sohn der Klägerin nach dem Urlaub im August 1997 in der Türkei festgehalten hat. Anhaltspunkte dafür, dass das ernsthafte Bemühen der Klägerin um die Rückkehr ihres Sohnes von vornherein keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, ergeben sich weder aus den vom FG festgestellten Tatsachen noch aus dem Vortrag des Beklagten.
Das FG hat seine Einschätzung auf die konkreten Bemühungen der Klägerin um die Rückkehr ihres Sohnes und die Beantragung des elterlichen Sorgerechtes gestützt und im Übrigen auf objektive Anhaltspunkte abgestellt, ab wann bei realistischer Betrachtung nicht mehr mit einer Rückkehr des Kindes gerechnet werden könne. Die Würdigung der Gesamtumstände dahin, die Klägerin habe zumindest für eine Übergangszeit von sechs Monaten nach Beginn des zwangsweisen Festhaltens ihres Sohnes in der Türkei nicht davon ausgehen müssen, dieser werde nicht nach Deutschland zurückkehren, ist nachvollziehbar und lässt keinen Rechtsfehler und auch keinen Verstoß gegen Erfahrungssätze oder Denkgesetze erkennen. Es kann daher dahinstehen, ob die Sechs-Monats-Regelung in § 9 Satz 2 AO 1977 als Rechtsgrundlage heranzuziehen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 892742 |
BFH/NV 2003, 464 |