Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Wird ein Rechtsmittel wegen Fristversäumung als unzulässig verworfen, ohne daß der Rechtsmittelführer auf den verspäteten Eingang seines Rechtsmittelschreibens hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben wurde, Gründe für eine Nachsichtgewährung geltend zu machen, so liegt in dieser Unterlassung der Gewährung des rechtlichen Gehörs ein wesentlicher Verfahrensmangel.
Die Bestimmung in § 87 Abs. 5 AO ist nach ihrem Sinn und Zweck nur auf die Fälle anzuwenden, in denen entweder der Antrag auf Nachsicht erst nach Ablauf der Frist gestellt wurde oder über die Frage einer Nachsichtgewährung von Amts wegen erstmalig nach Ablauf der Frist hätte entschieden werden können.
Normenkette
AO § 87 Abs. 5, § 86/3, § 288; FGO § 115/2; GG Art. 103 Abs. 1
Tatbestand
Die in Hamburg ansässige Bfin. legte gegen einen ihrem Bevollmächtigten in Mannheim am 23. März 1961 mündlich (telefonisch) bekanntgegebenen Zollbescheid eines Zollamts in Mannheim mit Schreiben vom 21. April 1961, das beim Zollamt laut Eingangsstempel am 28. April 1961 eingegangen ist, Einspruch ein. Das Hauptzollamt verwarf, ohne der Bfin. von dem verspäteten Eingang ihres Schreibens vorher Nachricht zu geben, den Einspruch als unzulässig. Zur Begründung führte es lediglich aus, die Rechtsmittelfrist habe mit Ablauf des 23. April 1961 geendet und der Einspruch sei erst am 28. April 1961, also verspätet, eingegangen und deshalb, da der Bescheid bereits mit Ablauf des 23. April 1961 rechtskräftig geworden sei, als unzulässig zu verwerfen gewesen.
Die Berufung, mit der unter anderem gerügt worden war, daß das Hauptzollamt es unterlassen habe, der Bfin. von dem verspäteten Eingang des Schreibens Kenntnis und damit Gelegenheit zu geben, Nachsicht zu beantragen, hatte keinen Erfolg. In den Gründen der Vorentscheidung ist ausgeführt, daß das Hauptzollamt im Berufungsverfahren besonders darauf hingewiesen habe, daß es vor Erlaß der Einspruchsentscheidung geprüft habe, ob gemäß § 87 Abs. 4 AO Nachsicht ohne Antrag bewilligt werden könne, dies jedoch verneint habe, weil der Bfin. die gesetzlichen Rechtsmittelfristen aus früheren Rechtsmittelverfahren bekannt gewesen seien und ihr Verschulden an der überschreitung der Rechtsmittelfrist offensichtlich sei. Die Vorinstanz schloß sich dieser Ansicht an, da die Bfin. damit hätte rechnen müssen, daß das nach ihrer Behauptung am 21. April 1961 in Hamburg als einfacher Brief aufgegebene Einspruchsschreiben nicht mehr bis zum Ablauf des 23. April 1961 beim Hauptzollamt eintreffe, und daher besondere Vorkehrungen (Telegramm, Eilbrief) für den rechtzeitigen Eingang hätte treffen müssen. Die Bfin. könne auch nicht nachweisen, daß sie das Einspruchsschreiben am 21. April 1961 zur Post gegeben habe. Der Briefumschlag mit Poststempel sei nicht mehr vorhanden und sei auch nicht aufzubewahren gewesen. Da erfahrungsgemäß mit einer Laufzeit einfacher Schreiben zwischen Hamburg und Mannheim von etwa zwei bis drei Tagen zu rechnen sei, spreche der Eingang des Einspruchsschreibens am 28. April 1961 dafür, daß es erst nach dem 21. April 1961 zur Post gegeben worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt aus den nachstehenden Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidungen.
Die Bfin. hat im Berufungsverfahren geltend gemacht, daß ihr vor Erlaß der Einspruchsentscheidung keine Kenntnis von dem verspäteten Eingang ihres Einspruchsschreibens gegeben worden sei, also Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -). Die Rüge ist begründet. Da die Frist zur Einlegung des Einspruchs am 28. April 1961, dem Tag, an dem laut Eingangsstempel des Zollamts das Schreiben vom 21. April 1961 eingegangen war, unzweifelhaft abgelaufen war, hatte das Hauptzollamt nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, ob Anlaß zur Nachsichtgewährung von Amts wegen in Betracht kommt. Es hat diese Frage verneint. Abgesehen davon, daß die Gründe, die es dafür anführt und die das Finanzgericht gebilligt hat, in sich nicht schlüssig sind - der Umstand, daß ein Steuerpflichtiger aus früheren Rechtsmittelverfahren die gesetzlichen Rechtsmittelfristen kennt, ist kein Grund, daß er nicht ohne sein Verschulden in einem späteren Verfahren verhindert sein kann, die Frist einzuhalten - und außerdem von der rechtsirrigen Annahme ausgehen, daß die Rechtsmittelfrist am 23. April 1961, der ein Sonntag war (§ 82 AO, § 193 BGB), abgelaufen sei, hätte es nunmehr, ehe es den Einspruch wegen Fristversäumung als unzulässig verwerfen durfte, unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des rechtlichen Gehörs die Bfin. auf den verspäteten Eingang ihres Einspruchsschreibens hinweisen und ihr Gelegenheit geben müssen, Antrag auf Nachsicht zu stellen und die Tatsachen, die den Antrag begründen sollen, glaubhaft zu machen. In dieser Unterlassung liegt ein Verfahrensmangel (§ 288 AO), und zwar ein wesentlicher, da die Möglichkeit bestand, daß ohne ihn die Einspruchsentscheidung anders ausgefallen wäre. Das hat das Finanzgericht verkannt und demzufolge auch seinerseits nichts getan, um den Mangel zu beheben. Es hat sich vielmehr damit begnügt, ohne erschöpfende Begründung zu behaupten, die Bfin. könne nicht nachweisen, daß sie das Einspruchsschreiben am 21. April 1961 zur Post gegeben habe, und aus der normalen Laufzeit einfacher Briefe zwischen Hamburg und Mannheim von etwa zwei bis drei Tagen und dem Eingang des Einspruchsschreibens am 28. April 1961 zu folgern, daß dieses nach dem 21. April 1961 zur Post gegeben wurde, eine Schlußfolgerung, die fehlgeht, da erfahrungsgemäß aus den verschiedensten Ursachen unvorhersehbare Verzögerungen in der Beförderung und der Zustellung von Postsendungen eintreten können.
Nach allem waren wegen des gerügten Verfahrensmangels die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Hauptzollamt zurückzuverweisen, das unter Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs noch aufzuklären haben wird, ob Gründe vorgelegen haben, die eine Nachsichtgewährung rechtfertigen könnten. Ergibt die Prüfung, daß die Rechtsmittelfrist unverschuldet versäumt wurde, so ist Nachsicht zu gewähren und sodann in eine sachliche Behandlung des Rechtsmittels einzutreten. Dem steht auch nicht die Bestimmung im § 87 Abs. 5 AO entgegen, daß nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, die Nachsicht nicht mehr begehrt oder ohne Antrag bewilligt werden kann, da diese Bestimmung nach ihrem Sinn und Zweck nur auf die Fälle anzuwenden ist, in denen entweder der Antrag auf Nachsicht erst nach Ablauf der Frist gestellt wurde oder über die Frage einer Nachsichtgewährung von Amts wegen erstmalig nach Ablauf der Frist hätte entschieden werden können.
Fundstellen
Haufe-Index 410537 |
BStBl III 1962, 405 |
BFHE 1963, 383 |
BFHE 75, 383 |