Leitsatz (amtlich)
1. § 145 Abs. 2 Nr. 4 der Reichsabgabenordnung in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 (AO) kamen die Rechtswirkungen einer besonderen, von § 147 Abs. 2 AO abweichenden Form der Verjährungsunterbrechung zu, nicht die Rechtswirkungen einer Anlaufhemmung.
2. Die Voraussetzungen des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO waren hinsichtlich des Erbschaftsteueranspruchs gegen den Pflichtteilsberechtigten nicht dadurch erfüllt, daß das Finanzamt die Erbschaftsteuer gegen den Erben vorläufig festsetzte.
2. Der Beginn der Verjährungsfrist war wegen bestehender Ungewißheiten dann nicht gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO gehemmt, wenn das Finanzamt die Steuerfestsetzung nicht durch ein erkennbar aktives Verhalten ausgesetzt hatte. Ein Nichttätigwerden des Finanzamts aus tatsächlichen und/oder rechtlichen Gründen erfüllte diese Voraussetzung nicht. Eine "stillschweigende" Aussetzung der Steuerfestsetzung konnte nicht angenommen werden, wenn jegliche Hinweise und Andeutungen auf einen darauf gerichteten Willen und dessen erkennbare Äußerung fehlten. Der Senat läßt offen, in welcher Form die Steuerfestsetzung auszusetzen gewesen wäre.
Normenkette
AO § 100 Abs. 1, § 144 Abs. 1 S. 1, § 145 Abs. 1, 2 Nr. 2 Buchst. a, Nr. 4, §§ 204, 210 Abs. 1; ErbStG 1959 § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1, § 26; BGB §§ 2317, 2332 Abs. 1
Tatbestand
Die Adoptiveltern der Klägerin hatten in ihrem gemeinschaftlichen Testament vom 30. Juni 1964 die Klägerin auf den Pflichtteil gesetzt und in einem weiteren Testament vom 25. März 1965 festgelegt, daß darauf bestimmte Zuwendungen, die die Klägerin zu Lebzeiten ihrer Adoptiveltern erhalten hatte, anzurechnen seien.
Der Adoptivvater der Klägerin (im folgenden: Erblasser) ist am 3. Februar 1968 gestorben.
Die Ehefrau des Erblassers hatte in ihrer Erbschaftsteuererklärung - eingegangen bei dem FA (Beklagter) am 28. Juni 1968 - u. a. angegeben, daß Pflichtteilsansprüche "bisher nicht" geltend gemacht worden seien. Das FA hatte durch gem. § 28 ErbStG 1959 vorläufigen Steuerbescheid vom 15. August 1968 Erbschaftsteuer festgesetzt.
Die Klägerin hatte gegenüber der Ehefrau des Erblassers ihren Pflichtteilsanspruch dem Grunde nach mit Schreiben ihrer Rechtsanwälte vom 13. Dezember 1968 geltend gemacht.
Die Ehefrau des Erblassers war am 18. Juni 1969 gestorben. Sie hatte die Klägerin in ihrem Testament als Miterbin eingesetzt. Diese hatte jedoch die Erbschaft für sich und ihre drei minderjährigen Kinder ausgeschlagen und auch insoweit ihren Pflichtteil geltend gemacht. Aufgrund von Verhandlungen zwischen den Erbbeteiligten waren Anfang 1970 die Pflichtteilsansprüche der Klägerin nach dem Erblasser auf X DM und nach dessen Ehefrau auf Y DM bemessen worden. Dies war in dem Begleitschreiben an das FA zur Erbschaftsteuererklärung über den Nachlaß der Ehefrau des Erblassers - eingegangen bei dem FA am 4. März 1970 - und in dem Auseinandersetzungsvertrag der verbliebenen Miterben - eingegangen bei dem FA am 15. Mai 1970 - besonders aufgeführt.
Das FA hatte aufgrund der geltend gemachten Pflichtteilsansprüche die Erbschaftsteuer der Ehefrau des Erblassers durch berichtigten und endgültigen Steuerbescheid vom 13. November 1974 auf 0 DM herabgesetzt und die Klägerin wegen des Erwerbs aufgrund des geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs durch Bescheid vom 5. November 1974 zur Erbschaftsteuer herangezogen.
Der Einspruch der Klägerin war ohne Erfolg geblieben.
Auf die Klage hob das FG die vorläufige Steuerfestsetzung und die Einspruchsentscheidung des FA wegen Verjährung des Steueranspruchs auf.
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung des § 145 Abs. 2 Nr. 4 und - wegen unzureichender tatsächlicher Feststellungen - die Verletzung des § 144 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 (AO).
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist unbegründet. Das FG hat im Ergebnis zutreffend den vorläufigen Erbschaftsteuerbescheid des FA und dessen Einspruchsentscheidung aufgehoben. Die Steuerfestsetzung war rechtswidrig. Der Erbschaftsteueranspruch gegen die Klägerin war im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung bereits verjährt.
1. Die Aufklärungsrüge des FA bezüglich der Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung i. S. des § 144 Abs. 1 Satz 1 AO greift nicht durch. Das bedarf gem. Art. 1 Nr. 8 BFH-EntlastG keiner Begründung.
2. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Erbschaftsteueranspruch gegen die Klägerin aufgrund des von ihr geltend gemachten Pflichtteilanspruchs bereits vor der Steuerfestsetzung durch das FA infolge Vollendung der Verjährung erloschen war (§ 1 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, § 15 ErbStG 1959, § 143, § 144 Abs. 1 Satz 1, § 145 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, § 148 AO).
a) Die Beteiligten stimmen zutreffend im Grundsätzlichen darin überein, daß der Anspruch der Klägerin bürgerlich-rechtlich mit dem Erbfall (§ 2317 BGB), also mit dem Tode des Erblassers (§ 1922 BGB), entstanden war, die sich ergebende Erbschaftsteuerschuld jedoch erst mit der Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs durch die Klägerin gegenüber der Ehefrau des Erblassers (§ 3 Abs. 1 StAnpG, § 14 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG 1959).
b) Das FG hat als Beginn des Laufs der Verjährungsfrist richtig den Ablauf des Kalenderjahres 1968 angenommen. Die grundsätzliche Regelung über den Beginn der Verjährungsfrist in § 145 Abs. 1 AO und die bei der Erbschaftsteuer abweichende Regelung in § 145 Abs. 2 Nr. 2 AO führten im Streitfalle zu demselben Beginn der Verjährungsfrist: Sowohl die Entstehung der Erbschaftsteuerschuld - hier: Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs durch die Klägerin im Dezember 1968 - als auch die Kenntnis der Klägerin von ihrem Erwerb von Todes wegen - hier: (spätestens) die Eröffnung der Testamente bzw. die auszugsweise Mitteilung des sie betreffenden Inhalts im April 1968 - fielen in das Kalenderjahr 1968. Da es nach der gesetzlichen Regelung für den Beginn der Verjährungsfrist unerheblich ist, zu welchem Zeitpunkt im Laufe eines Kalenderjahres der Steueranspruch entstanden ist (vgl. Urteil des RFH vom 16. Januar 1936 III A 230/35, RStBl 1936, 115), begann der Lauf der Verjährungsfrist im Streitfalle mit Ablauf des Kalenderjahres 1968.
c) Der davon abweichenden Auffassung des FA, der Lauf der Verjährungsfrist habe erst mit Ablauf des Kalenderjahres 1970 begonnen, vermag der erkennende Senat nicht beizutreten. Sie beruht auf einem rechtsirrtümlichen Verständnis des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO.
(1) Schon der Ausgangspunkt der rechtlichen Erwägungen des FA ist unrichtig. § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO legte für die in dieser Vorschrift aufgeführten Fälle keine Anlaufhemmung bezüglich der Verjährungsfrist fest. Allerdings schlossen die einleitenden Worte des § 145 Abs. 2 AO ("Abweichend ... beginnt die Verjährung ...") die Annahme einer Anlaufhemmung der Verjährungsfrist auch in den Fällen der Nr. 4 nicht von vornherein aus. Wortlaut und Inhalt der Nr. 4 aber ließen eine solche Auffassung nicht zu. Nach den Gesetzesvorschriften konnte in der Regel eine Steuerfestsetzung erst ausgesetzt und eine Steuer erst vorläufig festgesetzt werden, nachdem die Steuerschuld entstanden und damit der Lauf der Verjährungsfrist für die jeweiligen Steueransprüche nach den einschlägigen Vorschriften schon mehr oder weniger lange zuvor begonnen hatte. Ein Hinausschieben des Beginns der Verjährungsfrist war deshalb durch eine Aussetzung der Steuerfestsetzung oder eine vorläufige Steuerfestsetzung (Nr. 4) - anders als nach den Bestimmungen in den Nrn. 1 bis 3 - nicht möglich. Daher kam der Nr. 4 die Wirkung einer besonderen, von § 147 Abs. 2 AO abweichenden Form der Verjährungsunterbrechung zu, nicht aber die Rechtswirkung einer Anlaufhemmung. Daß im Streitfall neben den Voraussetzungen der Nr. 4 auch die Voraussetzungen der Nr. 2 vorgelegen haben sollen und deshalb aufgrund einer Anlaufhemmung nach dieser Vorschrift ein späterer Beginn des Fristenablaufs eingetreten sein könnte, hat das FA weder behauptet noch in irgendeiner sonstigen Weise dargetan.
(2) Die Voraussetzungen des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO waren auch nicht dadurch erfüllt, daß das FA die Erbschaftsteuer gegen die Ehefrau des Erblassers vorläufig festgesetzt hatte und "... die weitere Bearbeitung des Steuerfalles aussetzen mußte". Die Meinung des FA, der Erbfall könne "nämlich nur als einheitlicher Steuerfall beurteilt und bearbeitet werden", ist unrichtig. Der Erbschaftsteueranspruch gegen die Ehefrau des Erblassers bestand im August 1968 dem Grunde nach unabhängig von und ohne Rücksicht auf einen, möglicherweise später entstehenden Erbschaftsteueranspruch gegen die Klägerin. Beide Steueransprüche waren durch ein und denselben Lebensvorgang, nämlich den Tod des Erblassers (Erbfall), ausgelöst. Seiner Höhe nach war der Anspruch gegen die Ehefrau des Erblassers von dem Pflichtteilsanspruch der Klägerin insoweit abhängig, als sich die Geltendmachung dieses Pflichtteilsanspruchs zwangsläufig auf die Höhe des Erwerbs der Ehefrau des Erblassers und damit auf die Bemessungsgrundlage für die auf diesen Erwerb entfallende Erbschaftsteuer auswirken mußte. Solche erbrechtlichen und erbschaftsteuerrechtlichen Zusammenhänge bedürfen zwar besonderer Beachtung bei der erbschaftsteuerlichen Beurteilung eines Erbfalles; sie führen aber steuerrechtlich nicht zu einem "einheitlichen Steuerfall". Die Erbschaftsteueransprüche gegen die Ehefrau des Erblassers und die gegen die Klägerin gründen sich vielmehr auf verschiedene und voneinander unabhängige Erwerbsvorgänge, die erbschaftsteuerrechtlich unterschiedlich zu werten und zu behandeln sind. Schon mit dem Erbfall waren u. a. zwischen der Ehefrau des Erblassers und dem Abgabeberechtigten einerseits sowie zwischen diesem und der Klägerin andererseits selbständige Steuer-Rechtsverhältnisse entstanden, die unabhängig voneinander für die jeweils daran Beteiligten Rechte und pflichten auslösten. Daher lagen aufgrund des einen Erbfalls mehrere Erbschaftsteuerfälle vor. Die sich daraus ergebenden Erbschaftsteueransprüche blieben hinsichtlich ihrer Entstehung, ihres Fortbestehens und hinsichtlich ihres Erlöschens voneinander unabhängige Ansprüche. Deshalb konnten sich Maßnahmen der Steuerschuldner (Steuerpflichtigen) und solche des FA (für den Steuergläubiger) nur auf den Steueranspruch auswirken, den sie jeweils betrafen, und mußten ohne rechtlichen Einfluß auf die anderen Steueransprüche bleiben. Dementsprechend konnte die vorläufige Steuerfestsetzung gegen die Ehefrau des Erblassers zwar den Beginn der Verjährungsfrist des gegen diese bestehenden Steueranspruchs hinausschieben, nicht aber - wie das FA meint - auch den Beginn der Verjährungsfrist bezüglich des (erst später entstandenen) Steueranspruchs gegen die Klägerin. Daraus folgt weiter, daß das FA allein mit der vorläufigen Steuerfestsetzung gegen die Ehefrau des Erblassers nicht zugleich auch "... die weitere steuerliche Bearbeitung hinsichtlich der Pflichtteile ..." aussetzen konnte.
Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht das Vorbringen des FA, ihm sei im Zeitpunkt der vorläufigen Steuerfestsetzung gegen die Ehefrau des Erblassers aufgrund der gemeinschaftlichen Testamente nur das bürgerlich-rechtliche Bestehen von Pflichtteilansprüchen zugunsten der in den Testamenten aufgeführten Personen bekannt gewesen, nicht aber ein von der Klägerin geltend gemachter Pflichtteilsanspruch. Dies beruhte auf der bürgerlich-rechtlichen Regelung über das Entstehen des Pflichtteilsanspruchs und dessen Verjährung (§ 2317, § 2332 Abs. 1 BGB). Danach entsteht der Pflichtteilsanspruch bürgerlich-rechtlich mit dem Erbfall; die Verjährung dieses Anspruchs tritt regelmäßig nach drei Jahren ein. Der Berechtigte hat daher die Möglichkeit, seinen Anspruch noch innerhalb von drei Jahren nach Kenntnis "von dem Eintritt des Erbfalls und von der ihn beeinträchtigenden Verfügung" geltend zu machen und (erst) damit die Steuerschuld für seinen Erwerb zum Entstehen zu bringen (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG 1959). Dadurch werden in der Mehrzahl aller Fälle eine alsbald nach dem Erbfall vorgenommene (vorläufige) Steuerfestsetzung gegen den Erben und die Steuerfestsetzung gegen den Pflichtteilsberechtigten zeitlich mehr oder weniger auseinanderfallen, da letztere grundsätzlich erst nach dem Geltendmachen des Pflichtteilsanspruchs vorgenommen werden darf (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG 1959). Diese Regelung im Erbschaftsteuergesetz rechtfertigt es für sich allein nicht, die (vorläufige) Veranlagung des Erben zugleich und ohne weiteres als eine Aussetzung der Steuerfestsetzung gegen den Pflichtteilsberechtigten zu werten. Das Gesetz hat dieses zeitliche Auseinanderfallen in Kauf genommen und ihm dadurch Rechnung getragen, daß die Steuerschuld des Pflichtteilsberechtigten erst mit dem (in der Regel späteren) Geltendmachen des Pflichtteilsanspruchs entsteht (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG 1959).
(3) Das FA hat die Steuerfestsetzung gegen die Klägerin für den Erwerb ihres geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs nicht ausgesetzt i. S. des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO. Es hat selbst nicht behauptet, eine förmliche und ausdrückliche Verfügung mit einem entsprechenden Inhalt getroffen zu haben oder die Aussetzung der Steuerfestsetzung in einem Aktenvermerk niedergelegt zu haben. Sein Vorbringen geht lediglich dahin, die Bearbeitung der Erbschaftsteuersache "hinsichtlich der Pflichtteile stillschweigend" und durch "Nichttätigwerden aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen" ausgesetzt zu haben. Das erfüllt die Voraussetzungen des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO nicht.
Dieser Vorschrift gemäß trat der Beginn der Verjährungsfrist abweichend von dem Zeitpunkt gem. § 145 Abs. 1 AO u. a. in den Fällen ein, "in denen die Steuerfestsetzung wegen befristeter, bedingter oder sonst ungewisser Verhältnisse ausgesetzt ist". Mit den Worten "... ausgesetzt ist ..." ließ § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO nicht die bloße gesetzliche Möglichkeit der Aussetzung der Steuerfestsetzung (vgl. dazu Urteil des BFH vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445) ausreichen, sondern forderte insoweit - entgegen der Auffassung des Finanzamts - ein erkennbar aktives Verhalten dessen, der zu der Aussetzung der Steuerfestsetzung berechtigt und dafür zuständig war: Der Beginn der Verjährungsfrist sollte nur dann hinausgeschoben werden, wenn die Steuerfestsetzung wegen bestehender Ungewißheit wirklich ausgesetzt war. Das entsprach den gesetzlichen Bestimmungen über das steuerliche Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren (§§ 204 ff. AO). Danach hatte das FA die steuerpflichtigen Fälle zu erforschen, die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu ermitteln und war nach Abschluß seiner Ermittlungen verpflichtet, gem. § 210 Abs. 1 AO nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung die Steuer festzusetzen. Das geschah regelmäßig durch einen endgültigen Steuerbescheid (§ 210 Abs. 1 AO), ggf. durch einen Freistellungsbescheid oder eine "Nicht Veranlagen"-(NV-) Verfügung (vgl. dazu Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 210 A 7). Da die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des einzelnen Steuerfalles aber nicht immer alsbald und vollständig ermittelt werden konnten und deshalb in diesen Fällen zunächst eine endgültige Steuerfestsetzung, ein Freistellungsbescheid oder eine NV-Verfügung ausgeschlossen waren, räumte § 100 Abs. 1 AO dem FA unter den in dieser Vorschrift aufgeführten Umständen ein, bis zur endgültigen Klärung des Sachverhalts und damit bis zur Beseitigung bestehender Ungewißheiten entweder die Steuer (nur) vorläufig festzusetzen oder die Steuerfestsetzung überhaupt auszusetzen.
Damit hatte das FA in diesen Fällen am (vorläufigen) Ende seiner Ermittlungen das ihm durch § 100 Abs. 1 AO gesetzlich eingeräumte Auswahlermessen unter Beachtung seiner Verpflichtung zur Steuerfestsetzung (§ 210 Abs. 1 AO) auszuüben und grundsätzlich zwischen einer vorläufigen Steuerfestsetzung oder einer Aussetzung der Steuerfestsetzung zu entscheiden: Soweit die Ungewißheit konkrete Teile des Sachverhalts betraf, war die Steuer vorläufig festzusetzen; erstreckte sich die Ungewißheit dagegen auf den gesamten Sachverhalt, war die Steuerfestsetzung als solche auszusetzen. Unterblieb die Ausübung des Ermessens und wurde weder die Steuer vorläufig festgesetzt noch die Steuerfestsetzung ausgesetzt, traten auch nicht die vom Gesetz daran geknüpften Rechtswirkungen (u. a. Fälligkeit der Steuer; Hinausschieben des Verjährungsbeginns) ein. Entschied sich das Finanzamt im Rahmen seines Ermessens für die vorläufige Festsetzung der Steuer, so hatte es in der Regel einen förmlichen Steuerbescheid zu erlassen, der allen gesetzlichen Erfordernissen des endgültigen Steuerbescheids entsprechen und als vorläufig gekennzeichnet sein mußte (§§ 210 b, 211, 100 Abs. 1 AO).
Im Gegensatz dazu war - bei einer entsprechenden Ermessensentscheidung des FA für die Aussetzung der Steuerfestsetzung keine besondere Form vorgesehen. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlte. Eine solche war auch nicht in § 225 AO in der Fassung vor dem Gesetz vom 15. September 1965 (AO 1965) enthalten. Wenn auch § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO die frühere Regelung in § 225 Satz 3, 2. Halbsatz AO 1965 übernommen hatte (vgl. dazu Bundestags-Drucksache IV/2442 S. 12), so unterschieden sich doch - worauf das FG zutreffend hinweist - die Wortlaute beider Gesetzesvorschriften voneinander. Während § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO ein "ausgesetzt ist" forderte, genügte es nach § 225 Satz 1 AO 1965, daß "das Gesetz ... die Steuerfestsetzung aussetzt". Das bedeutet jedoch - was das FA übersehen hat - nicht, daß schon das "Nichttätigwerden aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen" als Aussetzung der Steuerfestsetzung i. S. des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO gewertet werden kann. Ein Nichttätigwerden läßt nur den Schluß zu, daß das FA den betreffenden Steuerfall überhaupt nicht oder vorübergehend nicht bearbeitet. Es schließt schon begrifflich jede Tätigkeit oder gar eine Entscheidung im Rahmen des betreffenden Steuerfalles aus. Das Nichttätigwerden des FA kann deshalb für sich allein auch keine Ermessensausübung in dem Sinne sein, daß wegen tatsächlicher und rechtlicher Ungewißheit des Sachverhalts im Ganzen eine endgültige oder vorläufige Steuerfestsetzung ausgeschlossen und daher die Steuerfestsetzung - zunächst - auszusetzen war. Ein Nichttätigwerden läßt den Steuerfall im Ganzen unberührt. Es kann deshalb auch nicht als Aussetzung der Steuerfestsetzung den schon begonnenen Lauf der Verjährungsfrist unterbrechen - vgl. oben (1) -.
Das Vorbringen des FA, es habe die Steuerfestsetzung "stillschweigend" ausgesetzt, führt zu keinem anderen Ergebnis. Das FA geht zutreffend davon aus, daß Steuerverwaltungsakte grundsätzlich auch formlos, d. h. mündlich und unter Umständen stillschweigend (aufgrund konkludenten Handelns) ergehen können, wenn - wie im Streitfalle bezüglich der Aussetzung der Steuerfestsetzung - die Schriftform nicht besonders vorgesehen ist. Das FA verkennt jedoch, daß im Streitfall ein auf die Aussetzung der Steuerfestsetzung gerichteter Wille des entscheidenden Beamten und eine erkennbare Äußerung eines solchen Willens fehlen. Den Akten des FA, die dem Senat vorliegen, ist in dieser Richtung kein Hinweis und keine Andeutung zu entnehmen. Die Nichtbearbeitung des Steuerfalles schließt von vornherein sowohl eine entsprechende Willensbildung als auch eine entsprechende und erkennbare Willensentscheidung aus. Die Akten, betreffend die Erbschaftsteuer der Ehefrau des Erblassers, enthalten im Anschluß an den vorläufigen Steuerbescheid vom 15. August 1968 lediglich einen irrtümlich an die Erbschaftsteuerstelle gerichteten Auszug aus einem Betriebsprüfungsbericht (Eingang beim FA 16. September 1968) sowie eine Anzeige einer Beerdigungskasse (Eingang 31. Oktober 1968); dann folgen bereits die Schriftstücke vom 17. Oktober 1974 (Umbuchungsanordnung und endgültiger Steuerbescheid). Für die dazwischenliegenden (fast) sechs Jahre lassen sich diesen Akten keine Vorgänge, Vermerke oder Maßnahmen des FA irgendwelcher Art entnehmen, und damit auch nicht solche bezüglich einer Aussetzung der Steuerfestsetzung hinsichtlich der Erbschaftsteuer für den Erwerb des von der Klägerin geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs. Die Akten, betreffend die Erbschaftsteuer der Klägerin, beginnen erst mit dem angefochtenen vorläufigen Steuerbescheid vom 5. November 1974, gefertigt am 17. Oktober 1974.
Das FA kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, erst "1970 durch eine Steuererklärung in einem anderen Erbfall von der Geltendmachung der Pflichtteilsansprüche am 13. Dezember 1978" erfahren zu haben. Seine bis dahin bestehende Unkenntnis hatte auf den Beginn der Verjährungsfrist keinen Einfluß. Es kann insoweit auch nicht darauf ankommen, ob die Ehefrau des Erblassers ihre Anzeigungspflicht (§ 165 e AO) oder die Klägerin ihre Meldepflicht (§ 26 ErbStG 1959 i. V. m. § 3 der ErbStDV) verletzt haben. Das FG hat in der angefochtenen Entscheidung zutreffend dargelegt, daß für Erbschaftsteueransprüche keine gesetzliche Vorschrift besteht, die - wie das FA meint - den Beginn der Verjährungsfrist bis zur Kenntnis des FA von dem steuerpflichtigen Vorgang hinausschiebt. Im übrigen war in den gemeinschaftlichen Testamenten vom 30. Juni 1964 und vom 25. März 1965, von denen das FA am 1. April 1968 Ablichtungen erhalten hatte, u. a. die pflichtteilsberechtigte Klägerin namentlich aufgeführt. Es wäre deshalb - unabhängig von möglichen Anzeige- und Meldepflichten - Sache des FA gewesen, den (gegebenenfalls) steuerpflichtigen Fall zu erforschen (§ 204 Abs. 1 AO). Dabei hätte es zunächst die Anschrift der pflichtteilsberechtigten Klägerin ermitteln müssen und dann durch (erforderlichenfalls wiederholte) Anfragen an diese oder die Ehefrau des Erblassers feststellen müssen, ob und wann der Pflichtteilsanspruch von der Klägerin geltend gemacht worden ist. Diesen gesetzlichen Verpflichtungen ist das FA nicht nachgekommen. Es hätte schließlich im Jahre 1970 die Möglichkeit gehabt, nach Klärung des Sachverhalts und nach vollständiger Kenntnis von dem steuerpflichtigen Vorgang die Erbschaftsteuer gegen die Klägerin (endgültig, ggf. vorläufig) festzusetzen. Auch das ist versäumt worden, ohne daß dafür irgendwelche Gründe ersichtlich sind.
Bei dieser Rechtsauffassung braucht der Senat nicht zu prüfen und zu entscheiden, in welcher Form die Steuerfestsetzung auszusetzen gewesen wäre, um den Beginn der Verjährungsfrist hinauszuschieben. Es genügt vielmehr für die Entscheidung, daß das FA durch bloßes Nichttätigwerden keine Steuerfestsetzung aussetzen konnte und nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen des Streitfalles überhaupt kein Wille und keine Maßnahme des FA erkennbar sind, die Steuerfestsetzung auszusetzen. Fehlt es schon daran, so ist die Form, in der dies zu geschehen hätte, für die Entscheidung ohne Bedeutung.
d) Die mit dem Ablauf des Kalenderjahres 1968 begonnene regelmäßige Verjährungsfrist betrug fünf Jahre (§ 144 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie war daher am 31. Dezember 1973 vollendet, der Erbschaftsteueranspruch gegen die Klägerin am 1. Januar 1974 erloschen (§ 148 AO).
e) Auf die Darlegungen des FA zur Frage einer 10jährigen Verjährungsfrist wegen Steuerhinterziehung kann der Senat nicht eingehen. Es handelt sich insoweit um neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren unbeachtet bleiben muß; der Senat ist mangels einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge - vgl. oben (1) - insoweit an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, die das FG in dem angefochtenen Urteil getroffen hat. Deren Würdigung durch das FG läßt keinen Rechtsirrtum erkennen.
Fundstellen
Haufe-Index 72635 |
BStBl II 1978, 120 |
BFHE 1978, 292 |