Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlagerecht des Instanzgerichts nach Zurückverweisung des übergeordneten Gerichts
Leitsatz (redaktionell)
Das Instanzgericht hat kein Recht und keine Pflicht zur Aussetzung und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG, wenn das übergeordnete Gericht in einem zurückverweisenden Urteil die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bestätigt hat. An diese Beurteilung ist das Instanzgericht gebunden, auch wenn die Entscheidungsgründe des Revisionsurteils auf die vom Instanzgericht erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht ausdrücklich eingehen.
Normenkette
GG Art. 100 Abs. 1 S. 1; BVerfGG § 80; StPO § 358 Abs. 1; AO § 426 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Kaiserslautern (Vorlegungsbeschluss vom 30.10.1969; Aktenzeichen 4 Cs 2683/68) |
Gründe
1. Nach § 426 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) in der Fassung von Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 10. August 1967 (BGBl. I S. 877) ist für die Ahndung von Steuervergehen dasjenige Amtsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk das Landgericht seinen Sitz hat. Nach § 426 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Landesregierung durch Rechtsverordnung die Zuständigkeit abweichend von § 426 Abs. 1 Satz 1 AO regeln, soweit dies mit Rücksicht auf die Wirtschafts- oder Verkehrsverhältnisse, den Aufbau der Verwaltungsbehörden oder andere örtliche Bedürfnisse zweckmäßig erscheint. Von dieser Ermächtigung hat die Landesregierung des Landes Rheinland-Pfalz in der Landesverordnung über die Zuständigkeit der Amtsgerichte in Strafverfahren wegen Steuervergehen vom 18. Dezember 1967 (GVBl. S. 334) – im folgenden: Verordnung vom 18. Dezember 1967 – Gebrauch gemacht. Nach § 1 Nr. 1 der Verordnung vom 18. Dezember 1967 ist das Amtsgericht Kaiserslautern in Strafverfahren wegen Steuervergehen örtlich zuständig für den Bezirk der Landgerichte Kaiserslautern und Zweibrücken.
2. Am 11. September 1968 erließ das Amtsgericht Kaiserslautern auf Antrag der Strafsachenstelle des Finanzamts Kaiserslautern einen Strafbefehl gegen I … Dem Beschuldigten wird darin zur Last gelegt, er habe Umsatzsteuer, Einkommensteuer und Gewerbesteuer vorsätzlich verkürzt (§ 396 AO a. F.). I … wohnte damals in N …, das zum Bezirk des Landgerichts Zweibrücken gehört. Die Tat soll im Saarland begangen worden sein. Gegen den Strafbefehl erhob der Beschuldigte Einspruch und rügte in der Hauptverhandlung am 29. November 1968 die örtliche Unzuständigkeit des Amtsgerichts Kaiserslautern. Dieses stellte daraufhin das Verfahren wegen örtlicher Unzuständigkeit durch Urteil vom 29. November 1968 ein. In den Gründen dieser Entscheidung wird ausgeführt, weder der Tatort (§ 7 StPO) noch der Wohnsitz des Angeklagten (§ 8 StPO) liege im Bezirk des Amtsgerichts Kaiserslautern. Die Verordnung vom 18. Dezember 1967, deren Gültigkeit ohnehin zweifelhaft erscheine, ändere jedenfalls nur die Tatortzuständigkeit nach § 7 StPO. Sie lasse die Zuständigkeit auf Grund Wohnsitzes gemäß § 8 StPO unberührt. Der Beschuldigte wohne nicht im Bezirk des Amtsgerichts Kaiserslautern.
Gegen dieses Urteil legte die Amtsanwaltschaft Kaiserslautern Berufung ein. Das Rechtsmittel wurde durch Urteil der Kleinen Strafkammer des Landgerichts Kaiserslautern vom 4. März 1969 verworfen. Das Amtsgericht habe seine örtliche Zuständigkeit im Ergebnis zu Recht verneint. Das Amtsgericht Kaiserslautern sei weder als Gericht des Tatorts noch als Gericht des Wohnsitzes örtlich zuständig. Durch die auf § 426 Abs. 2 AO gestützte Verordnung vom 18. Dezember 1967 habe die Zuständigkeit des Amtsgerichts Kaiserslautern nicht begründet werden können. § 426 Abs. 2 AO ermächtige nicht dazu, die örtliche Zuständigkeit eines Amtsgerichts über die Grenzen des Landgerichtsbezirks, zu dem es gehöre, hinaus zu erweitern.
Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. Durch Urteil vom 10. Juli 1969 hob das Oberlandesgericht Zweibrücken die Urteile des Amtsgerichts und Landgerichts auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kaiserslautern zurück. In den Gründen dieses Urteils wird u. a. folgendes ausgeführt: Die Revision rüge mit Erfolg eine Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit. Nach § 426 Abs. 2 AO sei die Landesregierung ermächtigt, die örtliche Zuständigkeit durch Rechtsverordnung abweichend von § 426 Abs. 1 Satz 1 AO zu regeln. Für die im Bereich der Finanzverwaltung eingerichteten Gemeinsamen Strafsachenstellen sollten möglichst am gleichen Ort gemeinsame Steuerstrafgerichte gebildet werden. In der Finanzverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz bestehe eine gemeinsame Strafsachenstelle bei dem Finanzamt Kaiserslautern. Deshalb bestimme § 1 Nr. 1 der Verordnung vom 18. Dezember 1967, daß das Amtsgericht Kaiserslautern für den Bezirk der Landgerichte Kaiserslautern und Zweibrücken örtlich zuständig sei. Es sei weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn des § 426 Abs. 2 AO zu vereinbaren, daß eine solche Regelung nur innerhalb eines Landgerichtsbezirks getroffen werden dürfe.
3. Durch Beschluß vom 30. Oktober 1969 hat daraufhin das Amtsgericht Kaiserslautern das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 426 Abs. 2 AO mit Art. 80 GG vereinbar ist. Es begründet die Vorlage wie folgt:
Von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hänge es ab, ob das Amtsgericht Kaiserslautern örtlich zuständig sei. Die auf § 426 Abs. 2 AO gestützte Verordnung vom 18. Dezember 1967 sei unwirksam, weil die in § 426 Abs. 2 AO enthaltene Ermächtigung in Zweck und Ausmaß nicht bestimmt genug sei. Es sei unklar, was unter „Wirtschaftsverhältnisse” und „Aufbau der Verwaltungsbehörden” zu verstehen sei. Das Merkmal „andere örtliche Bedürfnisse” sei derart unbestimmt, daß unter diesem Gesichtspunkt die Zuständigkeit der Gerichte jederzeit willkürlich geändert werden könne. Insbesondere lasse aber § 426 Abs. 2 AO nicht erkennen, ob die Ermächtigung auf Regelungen innerhalb eines Landgerichtsbezirks begrenzt sei oder ob die Landesregierung entgegen § 58 GVG und der in Literatur und Rechtsprechung herrschenden Meinung auch in die Landgerichtsbezirke eingreifen dürfe.
4. Der Bundesminister der Finanzen, der sich für die Bundesregierung geäußert hat, hält die Vorlage für unzulässig. Der Vorlagebeschluß enthalte sich jeder Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse, welche die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage erkennbar machen könnte. Sachlich genüge die in § 426 Abs. 2 Satz 1 AO enthaltene Ermächtigung den Anforderungen, die Art. 80 GG stelle. Diese Auffassung vertritt auch das Finanzamt Kaiserslautern.
II.
Die Vorlage ist unzulässig.
Recht und Pflicht zur Aussetzung und Vorlage bestehen nur, soweit die Rechtsauffassung des Gerichts nach den prozessualen Vorschriften im gegebenen Verfahrensabschnitt für die Entscheidung noch maßgebend ist. Bejaht ein übergeordnetes Gericht in einem zurückverweisenden Urteil die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, so ist damit für die bis dahin mit der Sache befaßten Instanzen die Frage der Verfassungsmäßigkeit endgültig entschieden. Die Rechtsauffassung des übergeordneten Gerichts tritt an die Stelle der Meinung des untergeordneten Gerichts mit der Folge, daß dieses nun nicht mehr verpflichtet, aber auch nicht mehr berechtigt ist, das anzuwendende Gesetz selbst auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen (BVerfGE 2, 406 [411 f.]; 6, 222 [242]; 12, 67 [72 f.]; vgl. auch BVerfGE 22, 373 [379]).
In der Strafsache gegen I … ist das Amtsgericht Kaiserslautern gemäß § 358 Abs. 1 StPO an die rechtliche Beurteilung gebunden, die das Oberlandesgericht Zweibrücken in seinem Urteil vom 10. Juli 1969 der Aufhebung der vorangegangenen Entscheidungen und der Zurückverweisung der Sache zugrunde gelegt hat. Das Oberlandesgericht hat entschieden, daß das Amtsgericht Kaiserslautern auf Grund von § 1 Nr. 1 der Verordnung vom 18. Dezember 1967 örtlich zuständig ist. Es hat damit nicht allein die Gültigkeit dieser Bestimmung, sondern notwendigerweise auch die Gültigkeit ihrer Ermächtigungsgrundlage, § 426 Abs. 2 Satz 1 AO, bejaht. An diese Beurteilung ist das Amtsgericht Kaiserslautern gebunden, auch wenn die Entscheidungsgründe des Revisionsurteils auf die vom Amtsgericht jetzt erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht ausdrücklich eingehen. Hierzu hatte das Oberlandesgericht keine Veranlassung, weil es nach dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe offensichtlich an der Gültigkeit von § 426 Abs. 2 Satz 1 AO nicht zweifelt. Die Bindung ist schon dadurch eingetreten, daß das Oberlandesgericht § 426 Abs. 2 Satz 1 AO im Rahmen der tragenden Gründe seiner Entscheidung als geltendes Recht angewendet hat (BVerfGE 2, 406 [412]; 12, 67 [72]). Das Amtsgericht Kaiserslautern darf deshalb seine örtliche Zuständigkeit im weiteren Verfahren nicht mehr in Frage stellen.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1697501 |
BVerfGE, 34 |