Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Ob die außerhalb des Beschäftigungsortes belegene Wohnung des Arbeitnehmers als Mittelpunkt seiner Lebensinteressen anzusehen ist und deshalb seinen Hausstand darstellt, ist anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen.
2. Das gilt auch dann, wenn beiderseits berufstätige Ehegatten/Lebenspartner/Lebensgefährten während der Woche (und damit den weitaus überwiegenden Teil des Jahres) am Beschäftigungsort zusammenleben. Denn dieser Umstand allein rechtfertigt es nicht, dort den Lebensmittelpunkt des Steuerpflichtigen und seiner (Haupt-)Bezugsperson zu verorten.
3. In der Regel verlagert sich indes der Mittelpunkt der Lebensinteressen eines Arbeitnehmers an den Beschäftigungsort, wenn er dort mit seinem Ehegatten/Lebenspartner/Lebensgefährten in eine familiengerechte Wohnung einzieht, auch wenn die frühere Wohnung beibehalten und zeitweise noch genutzt wird.
Normenkette
§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG
Sachverhalt
Arbeitnehmerin K war von Januar bis Juni 2008 bei der A GmbH in B und von Juli bis Dezember 2008 bei der C GmbH in D beschäftigt und bewohnte zunächst mit ihrem Lebensgefährten L, der ebenfalls dort arbeitete, eine Wohnung (70 qm) in F, in der K auch schon in den Vorjahren wohnte. Im November 2008 mieteten K und L eine Vierzimmerwohnung (156 qm) in G. In Ks Heimatort H hatten K und L noch eine Wohnung (72 qm) zur Verfügung, die Ks Eltern gehörte. K hatte 22 Fahrten nach H unternommen und machte für 2008 doppelte Haushaltsführung (9.307 EUR) geltend. Das FA und auch das FG (Hessisches FG, Urteil vom 25.9.2013, 2 K 2038/11) haben diese nicht anerkannt, weil sich K weitaus überwiegend nicht allein, sondern zusammen mit ihrer Hauptbezugsperson L am Beschäftigungsort aufgehalten habe; das führe zwangsläufig dazu, dass K dort und nicht in H ihren Mittelpunkt habe.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf, wie unter den Praxis-Hinweisen erläutert.
Hinweis
Der Besprechungsfall behandelt den Hausstand im Sinne der doppelten Haushaltsführung (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG). Doppelte Haushaltsführung setzt zwei Wohnungen voraus: die am Lebensmittelpunkt, wo der "Hausstand" unterhalten wird, und die am Beschäftigungsort; liegt der Lebensmittelpunkt in der Wohnung am Beschäftigungsort, scheidet doppelte Haushaltsführung aus. Der "Hausstand" ist der in der Hauptwohnung begründete Ersthaushalt. Der BFH umschreibt den dahin, dass der Arbeitnehmer sich dort regelmäßig (außerhalb von Arbeit und Urlaub) aufhält, ihn fortwährend nutzt, dort sein Privatleben führt, also seinen Lebensmittelpunkt hat; irgendeine Wohnung außerhalb des Beschäftigungsortes, etwa eine Ferienwohnung, genügt nicht (BFH, Urteil vom 16.1.2013, VI R 46/12, BFH/NV 2013, 1015, BFH/PR 2013, 233). Diese Grundsätze gelten auch für Ehegatten oder Lebensgefährten, die am Beschäftigungsort eine gemeinsame Wohnung haben. Denn auch die können ihren (gemeinsamen) Lebensmittelpunkt an einem anderen Ort haben. Diesen Grundsatz hatte das FG nicht beachtet. Denn es hatte – ohne weitere Prüfung – "zwangsläufig" in der gemeinsamen Wohnung am Beschäftigungsort statt in H den Hausstand verortet. Deshalb muss das FG nun erneut anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls feststellen und beurteilen, wo K ihren Lebensmittelpunkt hat. Das folgt letztlich aus einer Zusammenschau mehrerer Einzeltatsachen, u.a. persönliche Verhältnisse des Steuerpflichtigen, Ausstattung und Größe der Wohnungen, Art und Intensität der sozialen Kontakte, Vereinszugehörigkeiten und andere private Aktivitäten und Unternehmungen; auch wie oft und wie lange sich der Arbeitnehmer in der einen und der anderen Wohnung aufhält, ist Indiz, sofern der Aufenthalt nicht lediglich Familienbesuchen dient. Der BFH präzisiert dann noch durch eine (widerlegbare!) Regelvermutung: der Mittelpunkt der Lebensinteressen dürfte sich an den Beschäftigungsort verlagern, wenn Ehepartner/Lebensgefährten auch dort eine familiengerechte Wohnung nutzen. Notwendig bleibt aber ein Vergleich der Wohnungen. Denn erst daraus erschließt sich, welche Wohnung "familiengerechter" ist. Zuletzt sind noch die Grundsätze zur Mietobergrenze bei doppelter Haushaltsführung zu beachten, nämlich die Begrenzung auf einen durchschnittlichen Mietzins einer 60-qm-Wohnung (BFH, Urteil vom 9.8.2007, VI R 10/06, BFH/NV 2007, 1996, BFH/PR 2007, 422).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 8.10.2014 – VI R 16/14