Leitsatz
1. Eine Personenhandelsgesellschaft mit einer "kapitalistischen Struktur" kann Organgesellschaft sein, wenn neben dem Organträger Gesellschafter der Personenhandelsgesellschaft auch Personen sind, die in das Unternehmen des Organträgers nicht finanziell eingegliedert sind (Anschluss an das EuGH-Urteil Finanzamt für Körperschaften Berlin vom 15.04.2021 – C 868/19, EU:C:2021:285 und insoweit Aufgabe des BFH-Urteils vom 02.12.2015 – V R 25/13, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547).
2. Macht eine KG geltend, dass sie aufgrund geänderter BFH-Rechtsprechung Organgesellschaft i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG sei, setzt die Aufhebung einer gegenüber der KG ergangenen Steuerfestsetzung voraus, dass der Organträger zur Vermeidung eines widersprüchlichen Verhaltens einen Antrag auf Änderung der für ihn vorliegenden Steuerfestsetzung stellt.
3. Organträger und Organgesellschaft können nicht beanspruchen, im selben Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (z.B. Organgesellschaft) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und für den anderen Unternehmensteil (z.B. Organträger) nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden (Bestätigung des BFH-Urteils vom 26.08.2021 – V R 13/20, BFHE 273, 364).
Normenkette
§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, § 174 Abs. 3 AO
Sachverhalt
Der Kläger ist Insolvenzverwalter der A-GmbH & Co. KG (KG). Gesellschafter der KG waren im Jahr 2010 (Streitjahr) die A-Verwaltungs-GmbH als Komplementärin ohne eigenen Kapitalanteil (Komplementär-GmbH) sowie die beiden Kommanditisten VA mit einem Kapitalanteil von 80 % und SA mit 20 %. Bei der KG bedurften Gesellschafterbeschlüsse nach § 7 Abs. 2 des notariell beurkundeten Gesellschaftsvertrags vom 31.1.2003 grundsätzlich der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gesellschafter der Komplementär-GmbH waren im Streitjahr ebenfalls VA zu 80 % und SA zu 20 %. Einziger Geschäftsführer war VA. VA verpachtete der KG mit Pachtvertrag vom 1.2.2008 das Betriebsgrundstück und diverse Maschinen, die wesentliche Betriebsgrundlagen der KG waren. Die KG gab am 26.8.2011 eine nicht zustimmungsbedürftige USt-Erklärung für das Streitjahr ab mit einer USt von … EUR, die vollständig bezahlt wurde. VA erklärte seine entgeltlichen Umsätze aus der Verpachtung der Betriebsgrundlagen ebenfalls mit einer USt-Erklärung 2010 vom 26.8.2011. Das Amtsgericht X eröffnete mit Beschluss vom 31.12.2011 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der KG und bestimmte den Kläger zum Insolvenzverwalter. Aufgrund der für das Streitjahr vollständig entrichteten USt waren keine Steuerforderungen zur Tabelle anzumelden. Über das Vermögen des VA wurde am 16.11.2015 ebenfalls das Insolvenzverfahren eröffnet. Die KG gab am 29.12.2015 eine berichtigte USt-Erklärung für das Streitjahr ab, in der sie keine Umsätze mehr erklärte, und beantragte, das Bestehen einer Organschaft zwischen VA als Organträger und der KG als Organgesellschaft festzustellen. Antrag und Einspruch hatten keinen Erfolg. Demgegenüber gab das FG der Klage statt (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 7.11.2019, 1 K 1952/18, Haufe-Index 14108167, EFG 2020, 943).
Entscheidung
Auf die Revision des FA hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies die Sache an das FG zurück. Zwar habe das FG zutreffend entschieden, dass aufgrund geänderter Rechtsprechung, der sich der Senat anschließe, eine Organschaft mit VA als Organträger und der Klägerin als Organgesellschaft vorliege. Im Hinblick auf diese Rechtsprechungsänderung sei aber zu entscheiden, ob für die Organschaft insgesamt die neue oder die alte Rechtsprechung anzuwenden sei. Diese Entscheidung obliege dem Organträger, sodass eine Änderung zugunsten der KG voraussetze, dass der Organträger einen Antrag auf Änderung seiner Steuerfestsetzung zur Erfassung der Umsätze des KG stelle. Zu prüfen sei, ob die hierfür maßgebliche Festsetzungsfrist nach § 174 Abs. 3 Satz 2 AO unter den hierfür vom FG zu prüfenden Voraussetzungen noch nicht abgelaufen sei.
Hinweis
1. Das Besprechungsurteil befasst sich im Schwerpunkt mit zwei auf den ersten Blick eigenständigen Streitpunkten. Dabei handelt es sich zum einen um die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Personengesellschaft Organgesellschaft sein kann.
Zum anderen geht es darum, ob im Zusammenhang mit einer geänderten BFH-Rechtsprechung
- eine Tochtergesellschaft, gegen die aufgrund ihrer Umsatztätigkeit eine Steuerschuld festgesetzt worden ist, geltend machen kann, dass auf sie die neue, geänderte Rechtsprechung Anwendung findet, durch die sie zur Organgesellschaft wird, sodass für sie aufgrund der Aufhebung der gegen sie gerichteten Steuerfestsetzung ein Erstattungsanspruch entsteht,
- während der Mehrheitsgesellschafter es bei der Betrachtung entsprechend der alten, aufgegebenen Rechtsprechung, nach der er kein Organträger ist, belassen will, da er an einer bei ihm vorzunehmenden Besteuerung der Umsätze der Tochtergesellschaft kein Interesse hat.
2. Ausgangspunkt...