Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkünfte aus Kapitalvermögen, Sparguthaben in anderem Mitgliedstaat, längere Festsetzungsverjährung, Geldbuße
Leitsatz (amtlich)
1. Die Art. 49 EG und 56 EG sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, wenn Sparguthaben und daraus bezogene Einkünfte seinen Steuerbehörden verschwiegen werden und diese für deren Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besitzen, nicht verwehren, eine längere Nachforderungsfrist anzuwenden, wenn sich diese Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, als dann, wenn sie sich im erstgenannten Mitgliedstaat befinden. Der Umstand, dass in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gilt, ist insoweit unerheblich.
2. Die Art. 49 EG und 56 EG sind dahin auszulegen, dass sie dann, wenn ein Mitgliedstaat in Fällen, in denen sich Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine längere Nachforderungsfrist anwendet als in Fällen, in denen sich Guthaben im erstgenannten Mitgliedstaat befinden, und wenn diese ausländischen Guthaben sowie die daraus bezogenen Einkünfte den Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats, die für ihre Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besaßen, verschwiegen wurden, einer Bemessung der wegen des Verschweigens dieser ausländischen Guthaben und Einkünfte verhängten Geldbuße proportional zu dem Nachforderungsbetrag und nach Maßgabe dieses längeren Zeitraums nicht entgegenstehen.
Normenkette
EGVtr Art. 49, 56
Beteiligte
E. H. A. Passenheim-van Schoot |
Staatssecretaris van Financiën |
Verfahrensgang
Hoge Raad (Niederlande) (Urteil vom 21.03.2008; Abl.EU 2008, Nr. C 158/12) |
Tatbestand
„Freier Dienstleistungsverkehr ‐ Freier Kapitalverkehr ‐ Vermögensteuer ‐ Einkommensteuer ‐ Sparguthaben in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat ‐ Keine Angabe in der Steuererklärung ‐ Nachforderungsfrist ‐ Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats ‐ Richtlinie 77/799/EWG ‐ Gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern ‐ Bankgeheimnis“
In den verbundenen Rechtssachen C-155/08 und C-157/08
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidungen vom 21. März 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 16. April 2008, in den Verfahren
X (C-155/08),
E. H. A. Passenheim-van Schoot (C-157/08)
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts (Berichterstatter) sowie der Richter T. von Danwitz, E. Juhász, G. Arestis und J. Malenovský,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. şereŞ, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von X, vertreten durch J. J. Feenstra und L. C. A. Wijsman, advocaten,
‐ von Frau Passenheim-van Schoot, vertreten durch M. J. Hamer, advocaat, sowie J. A. R. van Eijsden und E. C. C. M. Kemmeren, belastingadviseurs,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Grave als Bevollmächtigte,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux als Bevollmächtigten,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 49 EG und 56 EG.
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen in den Niederlanden wohnenden natürlichen Personen, X (Rechtssache C-155/08) und Frau Passenheim-van Schoot (Rechtssache C-157/08), einerseits und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär im Finanzministerium) andererseits wegen Nachforderungen der niederländischen Steuerbehörden nach der Entdeckung von Sparguthaben in einem anderen Mitgliedstaat und Einkünften daraus, die verschwiegen worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern (ABl. L 336, S. 15) in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 77/799) bestimmt:
„Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilen sich nach dieser Richtlinie gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und Vermögen geeignet sein kö...