Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Freier Kapitalverkehr. Erbschaftsteuer. Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern. In einem Drittland belegene Grundstücke. Günstigere steuerliche Behandlung der in einem Mitgliedstaat oder einem Staat, der Partei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraums ist, belegenen Grundstücke. Beschränkung. Rechtfertigung. Wohnungspolitik. Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung
Normenkette
AEUV Art. 63, 65
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
Die Art. 63 bis 65 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die vorsieht, dass ein zum Privatvermögen gehörendes bebautes Grundstück, das zu Wohnzwecken vermietet wird, bei der Berechnung der Erbschaftsteuer mit seinem vollen gemeinen Wert angesetzt wird, wenn es in einem Drittland, das nicht Partei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 ist, belegen ist, während es lediglich mit 90 % seines gemeinen Werts angesetzt wird, wenn es im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Staat, der Partei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, belegen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 9. November 2021, in dem Verfahren
BA
gegen
Finanzamt X
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von BA, vertreten durch Rechtsanwalt F. Riedel,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann, W. Roels und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Februar 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 63 bis 65 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BA und dem Finanzamt X (Deutschland) wegen der Festsetzung der für ein in einem Drittland belegenes Grundstück zu entrichtenden Erbschaftsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im zweiten Erwägungsgrund des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) haben dessen Parteien erneut „[die] hoh[e] Priorität” bestätigt, „die sie den privilegierten Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft, ihren Mitgliedstaaten und den [Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA)] zuerkennen, welche auf Nachbarschaft, den traditionellen gemeinsamen Werten und der europäischen Identität beruhen”.
Deutsches Recht
ErbStG
Rz. 4
Das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Februar 1997 (BGBl. 1997 I S. 378) und des Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts vom 24. Dezember 2008 (BGBl. 2008 I S. 3018) (im Folgenden: ErbStG) bestimmt in § 1 Abs. 1 Nr. 1, dass „der Erwerb von Todes wegen” der Erbschaftsteuer unterliegt.
Rz. 5
§ 2 ErbStG bestimmt in Abs. 1:
„Die Steuerpflicht tritt ein
1. in den Fällen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes, der Schenker zur Zeit der Ausführung der Schenkung oder der Erwerber zur Zeit der Entstehung der Steuer (§ 9) ein Inländer ist, für den gesamten Vermögensanfall (unbeschränkte Steuerpflicht).
Als Inländer gelten
a) natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,
…”
Rz. 6
§ 3 ErbStG bestimmt in Abs. 1:
„Als Erwerb von Todes wegen gilt
1. der Erwerb durch Erbanfall (§ 1922 des Bürgerlichen Gesetzbuchs [im Folgenden: BGB]), durch Vermächtnis (§§ 2147 ff. [BGB]) oder auf Grund eines geltend gemachten Pflichtteilanspruchs (§§ 2303 ff. [BGB]);
…”
Rz. 7
§ 9 ErbStG bestimmt in Abs. 1:
„Die Steuer entsteht
1. bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tode des Erblassers …
…”
Rz. 8
§ 10 ErbStG bestimmt in den Abs. 1 und 6:
„(1) Als steuerpflichtiger Erwerb gilt die Bereicherung des Erwerbers, soweit sie nicht steuerfrei ist (§§ 5, 13, 13a, 13c, 16, 17 und 18). In den Fällen des § 3 gilt unbeschadet Absatz 10 als Bereicherung der Betrag, der sich ergibt, wenn von dem nach § 12 zu ermittelnden Wert des gesamten Vermögensanfalls, soweit er der Besteuerung unterliegt, die nach den Absätzen 3 bis 9 abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten mit ihrem nach § 12 zu ermittelnden Wert abgezogen werden. …
…
(6) … Schulden und Lasten, die mit nach § 13c befreitem Vermögen in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, sind nur mit dem Betrag abzug...