Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfungsrecht des Europäischen Gerichtshofs, Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, Mehrwertsteuer
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 248 Abs. 1 bis 3 EG verstoßen, dass sie sich geweigert hat, dem Rechnungshof der Europäischen Union zu gestatten, in Deutschland Prüfungen hinsichtlich der in der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 des Rates vom 7. Oktober 2003 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer und den einschlägigen Durchführungsvorschriften geregelten Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden durchzuführen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
4. Das Europäische Parlament und der Rechnungshof der Europäischen Union tragen ihre eigenen Kosten.
Normenkette
EGVtr Art. 248
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tatbestand
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ‐ Vom Rechnungshof geäußerte Absicht, in einem Mitgliedstaat Prüfungen vorzunehmen ‐ Weigerung dieses Mitgliedstaats ‐ Befugnisse des Rechnungshofs ‐ Art. 248 EG ‐ Prüfung der Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ‐ Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 ‐ Einnahmen der Gemeinschaft ‐ Eigenmittel, die aus der Mehrwertsteuer stammen“
In der Rechtssache C-539/09
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 21. Dezember 2009,
Europäische Kommission, vertreten durch A. Caeiros und B. Conte als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
unterstützt durch
Europäisches Parlament, vertreten durch R. Passos und E. Waldherr als Bevollmächtigte,
Rechnungshof der Europäischen Union, zunächst vertreten durch R. Crowe, dann durch T. Kennedy und B. Schäfer als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch C. Blaschke und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, J. Malenovský und M. Safjan, der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), G. Arestis, A. Borg Barthet und M. Ilešič, der Richterin C. Toader und des Richters J.-J. Kasel,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2011,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Mai 2011
folgendes
Urteil
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 248 Abs. 1 bis 3 EG, den Art. 140 Abs. 2 und 142 Abs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 248, S. 1) und Art. 10 EG verstoßen hat, dass sie sich geweigert hat, dem Rechnungshof der Europäischen Union zu gestatten, in Deutschland Prüfungen hinsichtlich der in der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 des Rates vom 7. Oktober 2003 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. L 264, S. 1) und den einschlägigen Durchführungsvorschriften geregelten Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden durchzuführen.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 2
Die Verordnung Nr. 1605/2002 wurde auf der Grundlage der Art. 279 EG und 183 EA erlassen. Art. 140 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Die Prüfung der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben durch den Rechnungshof erfolgt im Hinblick auf die Verträge, den Haushaltsplan, diese Haushaltsordnung, die Durchführungsbestimmungen und alle in Umsetzung der Verträge erlassenen Rechtsakte.
(2) Bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben kann der Rechnungshof nach Maßgabe des Artikels 142 von allen Dokumenten und Informationen betreffend die Rechnungsführung der Dienststellen und sonstigen Einrichtungen hinsichtlich der von den Gemeinschaften finanzierten oder kofinanzierten Operationen Kenntnis nehmen. Er ist befugt, alle für die Abwicklung von Ausgaben- oder Einnahmenvorgängen verantwortlichen Bediensteten zu hören und von allen Prüfungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die den genannten Stellen oder Einrichtungen eingeräumt werden. Die Prüfung in den Mitgliedstaaten erfolgt im Benehmen mit den einzelstaatlichen Rechnungsprüfungsorganen oder, wenn diese nicht über die erforderliche Kompetenz verfügen, mit den zuständigen einzelstaatlichen Stellen. Der Rechnungshof und die einzelstaatlichen Rechnungsprüfungsorgane arbeiten unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit vertrauensvoll zusammen.
…“
Rz. 3
Art. 142 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1605/2002 lautet:
„Die Kommission, die anderen Organe, die mit der Bewirtschaftung von Gemeinschaftseinnahmen und -ausgaben betrauten Einrichtungen sowie die Endempfänger von Zahlungen zulas...