Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschäftsveräußerung im Ganzen, Übertragung eines Gesamtvermögens oder Teilvermögens, Verkauf einer Kapitalbeteiligung als Geschäftsveräußerung im Ganzen, Verkauf einer Minderheitsbeteiligung
Leitsatz (amtlich)
Art. 5 Abs. 8 und/oder Art. 6 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage sind dahin auszulegen, dass die Veräußerung von 30 % der Anteile an einer Gesellschaft, für die der Veräußerer mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen erbringt, keine Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens bei der Lieferung von Gegenständen oder bei Dienstleistungen im Sinne dieser Bestimmungen darstellt; dies gilt unabhängig davon, ob die anderen Anteilseigner die übrigen Anteile an dieser Gesellschaft praktisch gleichzeitig an dieselbe Person übertragen oder diese Übertragung in engem Zusammenhang mit den für diese Gesellschaft ausgeübten Managementtätigkeiten steht.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 5 Abs. 8, Art. 6 Abs. 5
Beteiligte
Staatssecretaris van Financien |
Verfahrensgang
Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) (Urteil vom 02.12.2011; ABl. EU 2012, Nr. C 73/17) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Sechste Richtlinie 77/388/EWG ‐ Art. 5 Abs. 8 ‐ Begriff ‚Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens‘ ‐ Veräußerung von 30 % der Anteile an einer Gesellschaft, für die der Veräußerer mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen erbringt“
In der Rechtssache C-651/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2011, in dem Verfahren
Staatssecretaris van Financiën
gegen
X BV
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Malenovský sowie der Richter U. Lõhmus (Berichterstatter) und M. Safjan,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. November 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der X BV, vertreten durch T. K. M. Rookmaker-Penners und C. A. Peeters, belastingadviseurs,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ossowski und A. Robinson als Bevollmächtigte im Beistand von R. Hill und G. Peretz, Barristers,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, W. Roels und A. Cordewener als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 8 und Art. 6 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Financiën (Finanzstaatssekretär) und der X BV (im Folgenden: X) wegen eines an diese gerichteten Bescheids über die Nachveranlagung zur Umsatzsteuer für die Zeit vom 1. Januar 1996 bis 31. Dezember 1998.
Rechtlicher Rahmen
Sechste Richtlinie
Rz. 3
Art. 5 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„(1) Als Lieferung eines Gegenstands gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
…
(3) Die Mitgliedstaaten können als körperlichen Gegenstand behandeln:
…
c) Anteilrechte und Aktien, deren Besitz rechtlich oder tatsächlich das Eigentums- oder Nutzungsrecht an einem Grundstück oder Grundstücksteil begründet.
…
(8) Die Mitgliedstaaten können die Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens, die entgeltlich oder unentgeltlich oder durch Einbringung in eine Gesellschaft erfolgt, so behandeln, als ob keine Lieferung von Gegenständen vorliegt und den Begünstigten der Übertragung als Rechtsnachfolger des Übertragenden ansehen. Die Mitgliedstaaten treffen gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen, um Wettbewerbsverzerrungen für den Fall zu vermeiden, dass der Begünstigte nicht voll steuerpflichtig ist.“
Rz. 4
In Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie heißt es:
„Als Dienstleistung gilt jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist.
Diese Leistung kann unter anderem bestehen
‐ in der Abtretung eines unkörperlichen Gegenstands, gleichgültig, ob in einer Urkunde verbrieft oder nicht;
…“
Rz. 5
Nach Art. 6 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie gilt Art. 5 Abs. 8 „unter den gleichen Voraussetzungen für Dienstleistunge...