Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferung bei unrichtiger Rechnungsausstellung
Leitsatz (redaktionell)
1. Steht aufgrund der objektiven Beweislage fest, dass die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen und der gelieferte Gegenstand vom Lieferstaat in einen anderen Mitgliedstaat physisch verbracht worden ist, ist die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 b UStG trotz der Nichterfüllung der formellen Nachweispflichten des § 6a Abs. 3 UStG zu gewähren.
2. Es ist zweifelhaft, ob die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung wegen missbräuchlicher Berufung auf das Gemeinschaftsrecht versagt werden kann, weil der Lieferant zur Steigerung seines Umsatzes vorsätzlich falsche Belege ausstellt, die allein der Hinterziehung von Umsatzsteuer durch die Abnehmer im Empfängerstaat dienen.
Normenkette
UStG § 1 Abs. 1, § 3c Abs. 1, § 4 Nr. 1b, § 6a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 25a; UStDV §§ 17a, 17c; EU-Richtlinie 77/388/EWG
Tenor
Die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 2002 und 2003 vom 16. Juli 2008 wird ab Fälligkeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache in Höhe von 1.386.774,72 EUR für 2002 und 1.801.001,60 EUR für 2003 ausgesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die Antragstellerin steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen
erbracht hat.
Die Antragstellerin ist eine GmbH, deren Unternehmensgegenstand in den Umsatzsteuererklärungen der Streitjahre mit „Vermietung von Video-Filmen, Im- und Export von Fahrzeugen” angegeben wird. Geschäftsführer der GmbH sowie der von dieser beherrschten B GmbH ist der portugiesische Staatsangehörige F S-A.
In den Umsatzsteuer-Jahreserklärungen 2002 und 2003 erklärte die Antragstellerin in der Anlage UR umfangreiche steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen (12.661.246 EUR 2002 und in der berichtigten Erklärung 2003 12.965.649 EUR).
Aufgrund eines Rechtshilfeersuchens portugiesischer Behörden wurde 2005 ein Ermittlungsverfahren gegen den Geschäftsführer der Antragstellerin eingeleitet. Die Steuerfahndung (vgl. den strafrechtlichen und steuerlichen Teilbericht der Steuerfahndungsstelle des Finanzamts X vom 17. Juni 2008 und dort insbesondere S. 16f.) kam zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen in erheblichem Umfang erklärt habe, bei denen die Voraussetzungen des § 4 Nr. 1b i.V.m. § 6a Nr. 1 UStG für die Steuerfreiheit nicht vorgelegen hätten. Es seien Rechnungen für die Lieferung gebrauchter Kraftfahrzeuge nach Portugal erstellt worden, die dem ersten Anschein nach die Voraussetzungen für eine innergemeinschaftliche Lieferung erfüllt hätten, aber lediglich dazu dienten, als angebliche Doppel der Originalrechnung eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gegenüber den deutschen Finanzbehörden zu dokumentieren und die tatsächlichen Abnehmer in Portugal, an die die Antragstellerin die Fahrzeuge geliefert habe, zu verschleiern. Als „Originale” seien hiervon abweichende Rechnungen oder private Kaufverträge erstellt worden, die den tatsächlichen Erwerber oder von diesem benannte Privatpersonen, eine andere Kilometerleistung oder einen anderen steuerlichen Hinweis (§ 25a UStG statt § 6a UStG) enthalten hätten. Alle diese „Original”rechnungen oder -kaufverträge hätten dazu gedient, den portugiesischen Behörden den Kauf eines nach § 25a UStG (Differenzbesteuerung) zu besteuernden Fahrzeugs oder einen nicht steuerbaren privaten Kauf vorzutäuschen, um die Erwerbsbesteuerung in Portugal zu verhindern. Die Antragstellerin habe dadurch den Abnehmern – überwiegend Firmen in Portugal – die Möglichkeit verschafft, die Fahrzeuge wegen der nicht oder nur zu einem geringen Teil entrichteten Umsatzsteuer zu einem geringeren Preis an ihre Endkunden zu veräußern. Die Antragstellerin habe durch dieses Vorgehen ihren eigenen Fahrzeugabsatz innerhalb weniger Jahre immens erhöhen können. In 2002 seien so 1.376.774,72 EUR und in 2003 1.801.001,60 EUR hinterzogen worden.
Mit nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Steuerbescheiden vom 16. Juli 2008 erhöhte der Antragsgegner die Umsatzsteuerfestsetzungen 2002 und 2003 entsprechend dem vorgenannten Bericht der Steuerfahndung.
Die Antragstellerin erhob mit Schreiben vom 21. Juli 2007 hiergegen Einspruch und beantragte zugleich beim Beklagten die Aussetzung der Vollziehung der vorgenannten Umsatzsatzsteuerbescheide. Diese wurde mit Schreiben des Finanzamts vom 15. August 2008 abgelehnt. Man schließe sich dem im Rahmen der Prüfung der Untersuchungshaft des Geschäftsführers ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts X vom 30. Juli 2008 (Az. xxx und xxx) an, wonach eine umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung ohne Erfüllung der sich aus § 6a Abs. 3 UStG ergebenden Nachweispflichten auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung jedenfalls dann nicht in Betracht komme, wenn der handelnde Unternehmer durch Manipulation der beleg- und buchmäßigen Nachweise planmäßig die Erwerbsbesteuerung ...