Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldanspruch des in Deutschland Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehenden Vaters für sein bei der Kindesmutter in Litauen lebendes Kind. Rangverhältnis der Ansprüche

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein in Deutschland lebender Vater, der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht, hat Anspruch auf Kindergeld für sein bei der keine Erwerbstätigkeit ausübenden Kindsmutter in Litauen lebendes minderjähriges Kind.

2. Die in Art. 60 Abs. 1 S. 2 der DVO (EG) Nr. 987/2009 getroffene Regelung bezweckt nicht, dem Anspruchsinhaber einen bestehenden Kindergeldanspruch unter Hinweis auf seine Familienangehörigen zu versagen.

3. Für die unionsrechtliche Priorisierung gem. Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 steht der Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit einer Beschäftigung gleich.

 

Normenkette

EStG § 64 Abs. 1, 2 S. 1; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Buchst. a; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3; EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 23.08.2016; Aktenzeichen V R 19/15)

 

Tenor

Der Bescheid vom 29. Dezember 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2012 werden aufgehoben.

Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.

Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

 

Tatbestand

Der Kläger lebte im streitgegenständlichen Zeitraum in Deutschland und bezog hier Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Er hat eine im November 2007 geborene Tochter, die bei der Kindesmutter in Litauen lebt und für die er in Deutschland Kindergeld in hälftiger gesetzlicher Höhe erhielt (zuletzt 92 Euro monatlich, Bescheid vom 28. Dezember 2009).

Im Rahmen einer Überprüfung kam die zuständige Familienkasse zu dem Ergebnis, dass der Kläger aufgrund der ab Mai 2010 geänderten Rechtslage keinen Anspruch mehr auf Kindergeld habe. Mit Bescheid vom 29. Dezember 2011 hob die zuständige Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes daher mit Wirkung ab Januar 2012 auf.

Zwar habe der Kläger grundsätzlich Anspruch auf deutsches Kindergeld. Gleichzeitig stünden der Kindesmutter jedoch Familienleistungen in Litauen zu. Die Anspruchskonkurrenz sei anhand der Koordinierungsregelungen der Europäischen Union zu lösen. Hiernach sei maßgeblich, ob in den betreffenden Staaten eine Erwerbstätigkeit ausgeübt beziehungsweise eine Rente bezogen oder aber der Anspruch auf Familienleistungen allein durch den Wohnort ausgelöst werde. Da weder der Kläger noch die Kindesmutter eine Erwerbstätigkeit ausübten und auch keine Rente bezögen, bestehe allein im Wohnsitzstaat des Kindes ein Anspruch auf Familienleistungen [Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b Ziffer iii, Abs. 2 Satz 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004: VO (EG) Nr. 883/2004].

Hiergegen erhob der Kläger fristgerecht Einspruch.

Die Kindesmutter sei seit drei Jahren in Litauen selbständig als Friseurin tätig. Er überweise das Kindergeld stets an seine Tochter.

Mit Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2012 wies die zuständige Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück.

Die Frage, ob die Kindesmutter in Litauen eine Erwerbstätigkeit ausübe, sei nicht entscheidungserheblich. Sollte dies der Fall sein, stünde dem Kläger ebenfalls kein deutsches (Differenz-)Kindergeld zu, sondern allenfalls der Kindesmutter. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Durchführungs-Verordnung (EG) Nr. 987/2009 [DVO (EG) Nr. 987/2009] sei bei der Anwendung von Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates fallen und dort wohnen. Nach § 64 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) werde das Kindergeld nur einer Person gezahlt. Hier sei dies gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindesmutter, in deren Haushalt das Kind lebe.

Hiergegen wehrt sich der Kläger mit seiner fristgerecht erhobenen Klage.

§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG stehe seinem Auszahlungsanspruch nicht entgegen, weil der Kindesmutter nach den Regelungen des EStG kein Kindergeld zustehe. Und selbst wenn dies der Fall wäre, sei er aufgrund des Einverständnisses der Kindesmutter berechtigt, in Deutschland Kindergeld zu beantragen. Er habe es stets an sie weitergeleitet.

Die Kindesmutter sei im streitgegenständlichen Zeitraum durchgehend in Litauen selbständig als Friseurin tätig gewesen. Dies belege ein im Juni 2012 übersandtes und zur Gerichtsakte gereichtes Foto der Kindesmutter an ihrem Arbeitsplatz. Er biete ferner in Litauen ansässige Zeugen an und beantrage deren Vernehmung in Litauen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29. Dezember 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 14. Februar 2012 zu verpflichten, mit Wirkung ab Januar 2012 Kinderge...

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