Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorliegen einer Behinderung ist keine Rechtsfrage, sondern Tatsache i. S. v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Verhältnis von Kindergeldgewährung und Einkommensteuerveranlagung
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Vorliegen der in § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG genannten körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ist eine Tatsache i. S. v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Soweit der BFH die Auffassung vertreten hat, das Vorliegen einer Behinderung sei eine Rechtsfrage (BFH, Urteil v. 19.1.2017, III R 44/14, BFH/NV 2017 S. 735, Rz 21), folgt der Senat dem nicht.
2. Die Abgrenzung zwischen Tatsache und Rechtsfrage spielt nicht nur bei § 173 AO eine Rolle, sondern auch in anderen Vorschriften, insbesondere § 96 FGO und § 118 Abs. 2 FGO. Die Abgrenzung ist korrespondierend zu treffen.
3. Der Gesetzgeber hat für bestimmte typische Fälle (typische Unterhaltssituationen) mit den §§ 31, 32, 64, 65 EStG eine typisierende Regelung mit Kindergeld und Kinderfreibeträgen geschaffen, mit § 33a Abs. 1 EStG für davon nicht abgedeckte, untypische Unterhaltssituationen eine Auffangregelung. Diese Regelungsstruktur ist nachvollziehbar und keineswegs verfassungswidrig.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 1; EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 33a Abs. 1; FGO §§ 96, 118 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Möglichkeit einer Bescheidänderung bei nachträglicher Feststellung der Behinderung des Kindes für die Streitjahre 2012 und 2013.
I.
Der 1977 geborene Sohn der Kläger litt schon seit seiner Kindheit an der Asperger-Erkrankung, einer Form des Autismus, was lange Zeit aber nicht erkannt und diagnostiziert wurde. Er war in den Streitjahren 2012 und 2013 noch immer Student und vermochte sein Studium nicht abzuschließen. Seine Eltern, die Kläger, kamen noch immer für ihn auf.
Nachdem die Krankheit des Sohnes endlich als solche erkannt worden war, stellte das C… Amt auf den Antrag des Sohnes vom 27.01.2015 mit Bescheid vom 30.03.2015 mit Wirkung ab Antragstellung einen Grad der Behinderung von 80 mit Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis wegen einer tief greifenden Entwicklungsstörung fest.
Auf den Antrag des Klägers vom 15.03.2015 bewilligte die Familienkasse D… mit Bescheid vom 14.12.2015 Kindergeld in Höhe von monatlich 184 EUR ab Januar 2011 und wies im Februar 2016 11.088 EUR zur Auszahlung an. Mit Schreiben vom 18.12.2015 teilte sie die Kindergeldfestsetzung dem beklagten Finanzamt – FA – mit.
II.1.
In ihrer Einkommensteuererklärung 2012 vom 28.01.2013 hatten die Kläger bei den außergewöhnlichen Belastungen als Unterhaltsleistungen an bedürftige Personen Unterhaltszahlungen an den Sohn in Höhe von 8.004 EUR geltend gemacht und angegeben, der Sohn habe einen Bruttoarbeitslohn von 5.455 EUR bezogen und ihm seien dabei Werbungskosten in Höhe von 1.000 EUR entstanden. Im ESt-Bescheid 2012 vom 10.04.2013 berücksichtigte das FA Unterhaltszahlungen nach § 33a Abs. 1 EStG in Höhe von 4.173 EUR bei den außergewöhnlichen Belastungen.
2.
In ihrer Einkommensteuererklärung 2013 vom 21.01.2014 hatten die Kläger Unterhaltszahlungen an den Sohn in Höhe von 8.130 EUR, darunter Basiskrankenversicherungsbeiträge in Höhe von 1.855 EUR, geltend gemacht und angegeben, der Sohn habe einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 850 EUR bezogen und ihm seien dabei Werbungskosten in Höhe von 1.000 EUR entstanden. Im ESt-Bescheid 2013 vom 19.03.2014 berücksichtigte das FA Unterhaltszahlungen in Höhe von 8.130 EUR.
3.
Nachdem das FA durch die Mitteilung der Familienkasse vom 18.12.2015 von der Kindergeldfestsetzung erfahren hatte, erließ es nach Anhörung der Kläger die ESt-Änderungsbescheide 2012 und 2013, beide vom 09.06.2016, jeweils gestützt auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung – AO –. Darin berücksichtigte es keine Unterhaltszahlungen nach § 33a Abs. 1 EStG mehr. Dadurch ergab sich für 2012 eine um 1.242 EUR höhere ESt, jedoch ein um 45,21 EUR niedrigerer Solidaritätszuschlag – SolZ –, für 2013 eine um 2.408 EUR höhere ESt und ein um 17,71 EUR höherer SolZ. In beiden Jahren wurden keine Kinderfreibeträge berücksichtigt, weil die Günstigerprüfung ergeben hatte, dass das Kindergeld höher war.
4.
Die Kläger legten am 14.06.2016 für beide Jahre jeweils Einspruch ein. Es fehle an einer Rechtsgrundlage für die Änderung, insbesondere sei § 173 AO nicht anwendbar. Es habe sich erst nach dem Erlass des ursprünglichen Bescheids herausgestellt, dass der Sohn von Geburt an autistisch behindert gewesen sei. Die Schwerbehinderung sei erst mit Wirkung ab 27.01.2015 festgestellt worden. Die Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Erkrankung seien daher erst nach Erlass des ursprünglichen Bescheids eingetreten, so dass kein neuer Sachverhalt vorliege.
5.
Mit Einspruchsentscheidungen jeweils vom 27.03.2017 wurden die Einsprüche als unbegründet zurückgewiesen. Tatsache sei die seit der Geburt bereits vorliegende Behinderung, die dem FA n...