Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgabenordnung: Anforderungen an die Ausübung des Auswahlermessens in einem Haftungsbescheid
Leitsatz (amtlich)
1. Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lässt, muss die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist; eine fehlende Begründung legt die Annahme der Ermessensunterschreitung oder gar eines Ermessensausfalls nahe.
2. Im Rahmen des Auswahlermessens hat die Behörde Überlegungen anzustellen, ob neben dem in Anspruch genommenen Haftungsschuldner noch weitere mögliche Haftungsschuldner existieren und ob bei diesen die Haftungsvoraussetzungen erfüllt sind; hat die Finanzbehörde weitere Haftungsschuldner ermittelt, hat sie ermessensgerechte Erwägungen anzustellen, ob sie alle, einzelne oder nur einen Haftungsschuldner in Anspruch nehmen möchte. Diesen Anforderungen genügt die Behörde nicht, wenn sie lediglich mitteilt, die Inanspruchnahme weiterer Haftungsschuldner sei geprüft worden.
Normenkette
AO §§ 5, 69, 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, § 191
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Inanspruchnahme aus einem Haftungsbescheid.
Die Antragstellerin war Geschäftsführerin der A GmbH (Steuerschuldnerin). Unternehmensgegenstand der Steuerschuldnerin war u.a. ... Alleinige Gesellschafterin der Steuerschuldnerin war die B GmbH (GmbH). 2016 erwarb die Antragstellerin die Gesellschaftsanteile an der GmbH und wurde auf den Gesellschafterversammlungen jeweils vom... Januar 2016 zur alleinigen Geschäftsführerin sowohl der GmbH als auch der Steuerschuldnerin berufen. Mit Gesellschafterbeschluss vom ... 2017 wurde die Antragstellerin als Geschäftsführerin abberufen. Zum neuen Geschäftsführer bestellt wurde C, der aufgrund des Kauf-und Abtretungsvertrags vom selben Tag die Geschäftsanteile an der Steuerschuldnerin übernahm. Der Geschäftsführerwechsel wurde am ... 2017 in das Handelsregister eingetragen.
Für das Jahr 2015 gab die Steuerschuldnerin verspätet Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuererklärungen ab. Zudem beglich sie fällige Steuerschulden nicht.
Mit Haftungsanhörung vom 16. April 2019 teilte der Antragsgegner mit, dass er eine Haftungsinanspruchnahme der Antragstellerin wegen rückständiger Steuern bei der Steuerschuldnerin prüfe und bat insbesondere um Auskunft zu den eingegangenen und erfüllten Verbindlichkeiten, den Kreditlinien sowie den liquiden Mitteln zu Beginn und zum Ende des Haftungszeitraums. Durch ihren vormaligen Bevollmächtigten ließ die Antragstellerin mitteilen, dass sämtliche Geschäftsunterlagen an den neuen Geschäftsführer C übergeben worden seien und eine Buchhaltung für die Steuerschuldnerin lediglich bis zum 31. Mai 2017 existiere. C sei nicht mehr erreichbar, Forderungen ihm gegenüber nicht mehr durchsetzbar. Es sei jedoch denkbar, jedenfalls die bis zum 31. Mai 2017 existierende Buchführung zu rekonstruieren und nachzureichen.
Mit Haftungsbescheid vom 6. September 2019 nahm der Antragsgegner die Antragstellerin für Steuern und steuerliche Nebenleistungen in Höhe von ... € in Haftung und erließ eine entsprechende Zahlungsaufforderung.
Zur Begründung verwies er auf die Fälligkeit der genannten Steuern und Nebenleistungen zum 10. August 2017. Die Antragstellerin sei bis zum ... 2017 alleinige Geschäftsführerin der Steuerschuldnerin gewesen und habe ihre Pflicht zur Begleichung der Steuerschulden grob fahrlässig verletzt. Eine Inanspruchnahme der Steuerschuldnerin selbst sei erfolglos geblieben. Weitere Vollstreckungsmöglichkeiten bestünden nicht. Die in der Haftungsanhörung erbetenen Auskünfte zu Liquidität der Steuerschuldnerin seien nicht gegeben, weitere Buchführungsunterlagen nicht vorgelegt worden. Anhaltspunkte für eine vorzunehmende Quotierung der Rückstände im Hinblick auf weitere Gläubiger scheide daher aus. Insoweit habe die Antragstellerin ihren Mitwirkungspflichten nicht Genüge getan. In solchen Fällen könnten für den Steuerpflichtigen nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden. Hinsichtlich des Auswahlermessens liege kein Ermessensmissbrauch vor, da die Antragstellerin im Zeitpunkt der Pflichtverletzung einzige Geschäftsführerin der Steuerschuldnerin gewesen sei. Eine Haftung des Erwerbers und Nachfolgegeschäftsführers C sei geprüft worden.
Dagegen richtete sich die Antragstellerin mit ihrem Einspruch vom 10. September 2019, mit welchem sie zugleich die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Haftungsbescheides beantragte.
Den AdV-Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 12. Dezember 2019 ab; den Einspruch wies er mit Entscheidung vom 8. Juni 2020 als unbegründet zurück. Weiterhin sei der Fragebogen durch die Antragstellerin unbeantwortet geblieben, die verlangten Unterlagen zur möglichen ...