Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtserheblichkeit neuer Tatsachen; Auslegung des Tatbestandsmerkmals "Endpreis" i.S.v. § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG. Einkommensteuer 1990, 1991, 1992
Leitsatz (amtlich)
Eine nachträglich i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977 bekannt gewordene Tatsache ist rechtserheblich i. S. der Rechtsprechung (vgl. Beschluss des Großen Senats vom 23.11.1987 GrS 1/86, BStBl. II 1998), wenn im urspünglichen Veranlagungspunkt die Auslegung des Gesetzeswortlauts einer materiell-rechtlichen Vorschrift zweifelhaft war und keine allgemein verbindliche einschlägige Verwaltungsauffassung vorlag (hier: Auslegung des für die Ermittlung der Höhe des geldwerten Vorteils i. S. des § 8 Abs. 3 Satz 1 EStG maßgeblichen Tatbestandmerkmals "Endpreis" im Zeitraum August 1991 bis August 1993).
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG § 8 Abs. 3; LStR 1990 Abschn. 32 Abs. 2 S. 6
Nachgehend
Tenor
1. Die Verfügung vom 11. Oktober 1995, soweit dort eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) der Einkommensteuerbescheide 1990 mit 1992 abgelehnt wird, und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 9. September 1996 werden, aufgehoben. Das Finanzamt wird verpflichtet, für die Jahre 1990 mit 1992 nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geänderte. Einkommensteuerbescheide zu erlassen, in denen die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit der Kläger um die in den berichtigten Lohnsteuer(LSt)-Bescheinigungen vom Mai 1995 als überhöht ausgewiesenen Sachbezüge niedriger angesetzt werden.
2. Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Kläger vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Kläger die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gegeben sind.
I.
Die Kläger (Kl) sind Ehegatten, die zusammen zur Einkommensteuer (ESt) veranlagt werden. Sie sind beide bei der Firma AG angestellt. Die ESt-Veranlagungen der Streitjahre 1990 mit 1992 sind bestandskräftig, der zuletzt ergangene ESt-Bescheid 1992 ist vom 16. Aug. 1993. Mit Schreiben vom 5. Okt. 1995 ließen sie durch ihren Prozeßbevollmächtigten (Pb) unter Vorlage durch den Arbeitgeber berichtigter LSt-Bescheinigungen 1990 mit 1992 beim Finanzamt (FA) beantragen, sofern für die entsprechenden Jahre Einspruch erhoben wurde bzw. der Einspruch auf Drängen des FA wieder zurückgenommen wurde, die Bescheide zu ändern und die zuviel bezahlte Steuer zu erstatten, sofern für die entsprechenden Jahre kein Einspruch eingelegt wurde, im Rahmen der Billigkeitsregelung gemäß § 227 AO einen Erlaß auszusprechen. Nach den Angaben in den berichtigten LSt-Bescheinigungen wurden die den Kl gewährten Fahrzeugrabatte in den LSt-Karten der Streitjahre bisher wie folgt zu hoch bescheinigt und versteuert:
|
1990 |
1991 |
1992 |
|
DM |
DM |
DM |
Kl |
807,27 |
1332,65 |
3896,22 |
Klin |
807,27 |
1332,65 |
1123,27 |
Der überhöhte bisherige Ansatz ergab sich dadurch, daß der Arbeitgeber als Endpreis die von der Firma AG angegebene unverbindliche Preisempfehlung angesetzt worden war.
Mit Schreiben vom 11. Okt. 1995 lehnte es das FA aufgrund der vorgelegten berichtigten LSt-Bescheinigungen sowohl ab, die bestandskräftigen ESt-Bescheide 1990 mit 1992 nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern als auch einen Erlaß nach § 227 AO zu gewähren.
Zusammen mit der gegen die Ablehnung des Erlaßantrags eingelegten Beschwerde stellte der Pb erstmals mit Schreiben vom 3. Nov. 1995 Antrag auf Änderung der für die Streitjahre ergangenen ESt-Bescheide nach § 173 AO, hilfsweise erhob er Einspruch gegen das die Änderung ablehnende Schreiben des FA.
Da die Beschwerde aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Gesetzesänderung als Einspruch zu behandeln war (§ 18 Abs. 3 EGAO), lehnte das FA mit Einspruchsentscheidung (EE) vom 9. Sept. 1996 den Antrag auf Erlaß ab, zugleich sah es die Voraussetzungen für eine Änderung 4er bestandskräftigen ESt-Bescheide als nicht gegeben an. Zur Begründung führte es aus:
Bestandskräftige Steuerbescheide seien nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO u. a. zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt würden, die zu einer niedrigeren Steuer führten und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran treffe, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt würden. – Im Ergebnis müsse das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Änderungsvorschrift verneint werden. Nach ständiger Rechtsprechung sei nämlich dann eine Änderung wegen fehlender Rechtserheblichkeit ausgeschlossen, wenn das FA auch bei Kenntnis der Tatsachen nicht anders entschieden hätte. Das sei hier der Fall. Nach der im Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzungen zu beachtenden Verwaltungsauffassung habe es keinen geringeren Arbeitslohn zugrunde legen können, selbst wenn es davon ...