Entscheidungsstichwort (Thema)
Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation
Leitsatz (redaktionell)
Der Kindergeldanspruch eines gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig berechtigten Elternteils, der mit dem Kind in einem anderen EU-Staat lebt und dort keine Familienleistungen bezieht, wird durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 nicht ausgeschlossen, weil kein tatsächliches Zusammentreffen von Familienleistungen gegeben ist. Der Umstand, dass der im Inland lebende andere Elternteil hier eine Rente bezieht, steht dem nicht entgegen.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2a, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1, 2, § 64 Abs. 2 S. 1; VO Nr 883/2004 Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 67 S. 1, Art. 68 Abs. 1, 2 S. 1, 2, 3; VO Nr 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2; EStG § 32 Abs. 3
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2012 bis Januar 2015.
Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie ist die leibliche Mutter der am 12.06.1996 geborenen Tochter T. und lebte im streitigen Zeitraum von Januar 2012 bis Januar 2015 mit ihr zusammen in Griechenland. Die Tochter absolvierte in Griechenland ihre Schulausbildung. Die Klägerin war in Griechenland nicht erwerbstätig und bezog auch keine Rente. Es ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig, dass sie in Griechenland keine Familienleistungen für die Tochter bezog, da die Anspruchsvoraussetzungen im streitigen Zeitraum nicht erfüllt waren.
Der leibliche Vater V. ist griechischer Staatsangehöriger und lebte im streitigen Zeitraum in Deutschland. Aufgrund eines Verkehrsunfalls bezog er bis Oktober 2014 eine Rente in Höhe von monatlich 1.500,– EUR. Dabei handelte es sich – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – um eine Geldrente gemäß § 843 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Gesamtschuldner dieser Rente waren der Unfallgegner und dessen Haftpflichtversicherung. Sie waren verpflichtet, den eingetretenen Verdienstausfallschaden auszugleichen. Der Kindesvater war seit dem Unfall erwerbsunfähig. Ab Februar 2015 bezieht er die gesetzliche Altersrente.
Den zunächst von dem Kindesvater gestellten Antrag auf Festsetzung von Kindergeld für die Tochter lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12.03.2015 ab. Die nach dem erfolglos durchgeführten Einspruchsverfahren erhobene Klage wies der hiesige Senat mit Urteil vom 13.12.2017 11 K 2502/16 Kg ab. In den Gründen führte der Senat unter anderem aus, dass die Klägerin nach § 64 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) die vorrangig Anspruchsberechtigte sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil verwiesen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28.06.2018 den von der Klägerin am 04.07.2017 gestellten Antrag auf Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2012 bis Januar 2015 ab. Zur Begründung führte sie aus: Da es sich um überstaatliche Sachverhalte handele, seien neben den nationalen Regelungen auch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Amtsblatt der Europäischen Union / ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1 – (im Folgenden: VO Nr. 883/2004) und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 – ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1 – (im Folgenden: VO Nr. 987/2009) einschlägig. Hiernach seien insbesondere die Koordinierungsregelungen zur Lösung der Anspruchskonkurrenzen zu beachten. Sofern Ansprüche auf Familienleistungen auf denselben Gründen beruhen, sei grundsätzlich das Wohnland des Kindes vorrangig zuständig; siehe Artikel 68 Abs. 1 Buchst. b der VO Nr. 883/2004. Nach ihren Feststellungen wohne die Klägerin im streitigen Zeitraum in Griechenland. Der konkurrierende Anspruch werde ebenfalls durch den Wohnort des anderen Elternteils, des Kindesvaters, in Deutschland ausgelöst. Damit sei der Wohnsitz des Kindes in Griechenland entscheidend. In dieser Konstellation komme nach Artikel 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 kein darüberhinausgehender Anspruch auf deutsches Kindergeld in Betracht.
Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein. Zur Begründung trug sie vor: Sie sei nach § 64 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Ihre Tochter habe im streitigen Zeitraum unstreitig in ihrem Haushalt gelebt. Es werde gemäß Artikel 67 der VO Nr. 883/2004 in Verbindung mit Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ein Inlandsbezug von ihr fingiert. Bei der Unfallrente des Kindesvaters handele es sich um eine Lohnersatzleistung; es seien Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge in diesem Zeitraum entrichtet worden. Es handele sich daher – entgegen der Auffassung der Beklagten – um eine Rente im Sinne von Artikel 67, 68 Abs. 1a der VO Nr. 883/2004, so dass Deutschland für die Gewährung von Familienleistungen vorrangig zuständig sei.
Die Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidu...