Dr. Fabian Schmitz-Herscheidt
Leitsatz
Ein vorläufiger Sachwalter ist zumindest dann als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 der Abgabenordnung anzusehen, wenn er nach Übernahme der Kassenführung gemäß § 275 Abs. 2 der Insolvenzordnung auf seinen Namen ein Anderkonto bei einer Bank eröffnet und sämtliche eingehenden und ausgehenden Zahlungen des Schuldners über dieses Konto abwickelt.
Normenkette
§ 35, § 69 Satz 1, § 191 Abs. 1 Satz 1 AO, § 118 Abs. 2 FGO, § 270 Abs. 1, § 274 Abs. 2, § 275 Abs. 2 InsO
Sachverhalt
Der Kläger war vorläufiger Sachwalter im Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der A-GmbH. Die GmbH hatte ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO (sog. Schutzschirmverfahren) beantragt.
Kurz vor der Bestellung des Klägers zum vorläufigen Sachwalter veranlasste der Geschäftsführer der GmbH die Abrechnung der Löhne für einen Monat des Jahres 2014 und meldete beim FA die LSt an. Die Nettolöhne zahlte er den Arbeitnehmern in voller Höhe aus. Nachdem der Kläger als vorläufiger Sachwalter bestellt worden war, zog er die Kassenführung gemäß § 275 Abs. 2 InsO an sich, eröffnete ein Anderkonto bei einer Bank und realisierte sämtliche ein- und ausgehenden Zahlungen der GmbH über dieses Konto.
Da die offene LSt nicht entrichtet wurde, nahm das FA den Kläger als Haftenden gemäß § 69 AO in Anspruch. Er sei ein Verfügungsberechtigter i.S.d. § 35 AO. Bei der Berechnung der Höhe der Haftung berücksichtigte das FA allerdings einen zuvor aufgrund der Insolvenzquote vereinnahmten Betrag nicht haftungsmindernd.
Das FG (FG Düsseldorf, Urteil vom 12.3.2021, 14 K 3658/16 H(L), Haufe-Index 14501921) gab der Klage statt. Es betrachtete den Kläger nicht als Verfügungsberechtigten i.S.d. § 35 AO, weil die Kassenführung nur ein Instrument der Überwachung des Schuldners sei. Auch das Einrichten eines Anderkontos reiche nicht aus, um ein Auftreten als Verfügungsberechtigter anzunehmen.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung teilweise auf und wies die Klage im Wesentlichen ab. Der Kläger obsiegte nur insoweit, als das FA den erstatteten Betrag nicht haftungsmindernd berücksichtigt hatte.
Hinweis
1. Gemäß § 35 AO hat, wer als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann.
a) Verfügungsberechtigter i.S.d. § 35 AO ist jeder, der rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen zuzurechnen sind, verfügen kann und nach außen hin als Verfügungsberechtigter auftritt (BFH, Urteil vom 16.3.1995, VII R 38/94, BFH/NV 1995, 50, BStBl II 1995, 859).
b) Dazu muss die Person nach dem Wortlaut des § 35 AO in der Lage sein, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters rechtlich und tatsächlich zu erfüllen. Mit dieser Einschränkung soll klargestellt werden, dass eine tatsächliche Verfügungsmöglichkeit nicht ausreicht, um die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters zu begründen. Es bedarf vielmehr auch der Fähigkeit, aufgrund bürgerlich-rechtlicher Verfügungsmacht im Außenverhältnis wirksam zu handeln (BFH, Beschluss vom 8.12.2010, VII B 102/10, BFH/NV 2011, 740).
2. Danach ist ein (vorläufiger) Sachwalter – zumindest ohne Hinzutreten weiterer Umstände – kein Verfügungsberechtigter i.S.d. § 35 AO.
a) Denn grundsätzlich hat er gemäß § 274 Abs. 2 Satz 1 InsO (nur) die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und die Geschäftsführung sowie die Ausgaben für die Lebensführung zu überwachen. Dem Schuldner wird nicht die Verwaltungs‐ und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen entzogen.
b) In einem Ausnahmefall hat der BFH allerdings einen Sachwalter als Verfügungsberechtigten i.S.d. § 35 AO angesehen, weil aus einer durch einen Notarvertrag eingeräumten Berechtigung zur Verfügung über Anlage‐ und Umlaufvermögen der Schuldnerin eine Verfügungsberechtigung abzuleiten war (BFH, Urteil vom 13.9.1988, VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139).
3. In dem vom BFH nun entschiedenen Fall lag ebenfalls ein Ausnahmefall vor. Demnach ist ein (vorläufiger) Sachwalter zumindest dann als Verfügungsberechtigter i.S.d. § 35 AO anzusehen, wenn er nach Übernahme der Kassenführung gemäß § 275 Abs. 2 InsO auf seinen Namen ein Anderkonto bei einer Bank eröffnet und sämtliche ein- und ausgehenden Zahlungen des Schuldners über dieses Konto abwickelt (BFH, Urteil vom 20.2.2024, VII R 16/21, BFH/NV 2024, 1062, Rz. 29).
a) Bei Anderkonten handelt es sich um offene Vollrechtstreuhandkonten, aus denen ausschließlich der das Konto eröffnende Rechtsanwalt persönlich der Bank gegenüber berechtigt und verpflichtet ist (BGH, Urteil vom 7.2.2019, IX ZR 47/18, BGHZ 221, 87, Haufe-Index 13024284).
b) Durch die Einräumung derartiger treuhänderischer Befugnisse erlangt der kassenführende Sachwalter die für eine Verfügungsberechtigung i.S.d. § 35 AO erforderliche rechtliche und wirtschaftliche Verfügungsmacht, so der BFH. Die Nutzung der Verfügungsmacht im Außenverhältnis folgt aus der Einrichtung des Anderkontos auf den Namen des Klägers in seiner Funktion als vo...