Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachweis des Zugangs eines Verwaltungsaktes
Leitsatz (redaktionell)
- Typische und daher dem Anscheinsbeweis zugängliche Geschehensabläufe sind nur solche, die vom menschlichen Willen unabhängig sind, die aber gleichsam mechanisch abrollen.
- Der Umstand, dass innerhalb eines Zeitraums von wenigen Monaten insgesamt drei Schriftstücke nicht angekommen sein sollen, rechtfertigt nicht den allgemeinen Erfahrungssatz nach den Regeln des Anscheinsbeweises, dass ein Zugang vermutet wird.
- Ein gewichtiges Indiz für die Annahme des Zugangs eines Briefes ist, wenn sich der als Empfänger benannte Beteiligte seiner Behauptung, der betreffende Bescheid sei ihm nicht zugegangenen in Widerspruch zu früheren Äußerungen gesetzt hat.
Normenkette
AO § 122 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
Streitjahr(e)
2003
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger ein Bescheid zugegangen ist, durch den die Beklagte (die Familienkasse) die Festsetzung von Kindergeld abgelehnt hat, und ob insoweit wegen der Bindungswirkung dieses Ablehnungsbescheids für den davon betroffenen Zeitraum eine spätere Kindergeldfestsetzung ausgeschlossen ist. Dem Rechtsstreit liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger hatte in der Vergangenheit für seinen Sohn E … von der Familienkasse Kindergeld erhalten. Nach seinen Angaben war die Zahlung zu einem jetzt nicht mehr bekannten Zeitpunkt eingestellt worden.
Am 23.06.2003 stellte der Kläger für seinen Sohn E wiederum einen Kindergeldantrag. Die Familienkasse forderte ihn daraufhin mit Schreiben vom 25.06.2003 auf, bestimmte Unterlagen einzureichen. Weil sie hierzu keine Antwort erhielt, erinnerte sie mit Schreiben vom 17.09.2003 an die Erledigung des Schreibens. Sodann erließ sie unter dem Datum vom 07.01.2004 einen Bescheid, mit dem sie den Antrag vom 23.06.2003 ablehnte. Zur Begründung führte sie aus, die angeforderten Unterlagen seien nicht eingereicht worden. Der Bescheid sowie die beiden vorangegangenen Schreiben waren an die vom Kläger in seinem Antrag angegebene Adresse „Y- Straße 2, 12345 X - Stadt” gerichtet.
Unter dem Datum vom 23.03.2004 richtete der Prozessbevollmächtigte im Namen des Klägers ein Schreiben an die Familienkasse, in dem er u. a. vortrug: „Seit einiger Zeit” erhielte der Kläger kein Kindergeld mehr, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen bei dem Sohn E vorlägen. Es werde beantragt, das Kindergeld weiterzuzahlen.
Auf einen entsprechenden Hinweis durch die Familienkasse stellte der Kläger über den Prozessbevollmächtigten am 19.07.2004 erneut einen Kindergeldantrag. Die von der Familienkasse geforderten Nachweise legte er in der Folgezeit vor. Sodann setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 19.08.2004 Kindergeld für die Zeit ab Februar 2004 fest. Dabei lehnte sie jedoch für den vorangegangenen Zeitraum die Kindergeldfestsetzung ab. Zur Begründung führte sie – sinngemäß – aus: Der frühere Kindergeldantrag sei mit Bescheid vom 07.01.2004 abgelehnt worden. Dies schließe eine Festsetzung aus.
Gegen den vorgenannten Bescheid legte der Prozessbevollmächtigte im Namen des Klägers Einspruch ein. Hierzu trug er u. a. vor: „Aus bisher unbekannten Gründen” habe die Familienkasse „eines Tages” die Kindergeldzahlung eingestellt. Eine Mitteilung hierüber habe sie dem Kläger nicht gemacht. Da die Zahlungen auf ein Konto des Kindes gegangen seien, habe der Kläger die Zahlungseinstellung „erst Jahre später” bemerkt. Daraufhin habe er am 23.06.2002 einen neuen Kindergeldantrag gestellt. Auf diesen Antrag habe er sodann längere Zeit nichts gehört. Das Schreiben vom 25.06.2003 sowie den Bescheid vom 07.01.2004 habe er nicht erhalten. Erst durch den Hinweis der Familienkasse in dem Schreiben vom 29.03.2004 habe er von dem Sachverhalt erfahren. Es sei schon des Öfteren vorgekommen, dass der Kläger Postsendungen nicht erhalten habe. Erklärungen für diese Vorkommnisse seien bisher nicht zu finden gewesen. Die Familienkasse wies den Einspruch – ohne eine inhaltliche Begründung – zurück (Einspruchsentscheidung vom 20.01.2005).
Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren weiter. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen sein Vorbringen im Einspruchsverfahren.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 19.08.2004 hinsichtlich der Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung sowie die Einspruchsentscheidung vom 20.01.2005 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, für den Zeitraum von Juni 2003 bis Januar 2004 Kindergeld betreffend das Kind E festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
Auf einen entsprechenden Hinweis durch den erkennenden Einzelrichter trägt sie zur Begründung – sinngemäß – nunmehr vor: Sowohl die Schreiben vom 25.06.2003 und vom 17.09.2003 als auch der Bescheid vom 07.01.2004 seien an den Kläger unter der zutreffenden Adresse abgesandt worden. Ein Rücklauf sei nicht erfolgt. Es widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass drei Poststücke, die innerhalb von sechs Monaten an dieselbe Adresse versandt worde...