Leitsatz
Eltern türkischer Abstammung, welche die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, steht nach § 63 Abs. 1 S. 3 EStG für ihre in der Türkei lebenden Kinder kein Kindergeld nach den §§ 62ff. EStG zu. Ein Anspruch in Höhe des einkommensteuerrechtlichen Kindergelds ergibt sich auch nicht aus dem Assoziierungsabkommen EWG/Türkei und den Assoziationsratsbeschlüssen Nr. 1/80 und Nr. 3/80 sowie aus dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen.
Normenkette
§ 63 Abs. 1 S. 3, § 66 Abs. 1 EStG, Art. 45 AEUV
Sachverhalt
Der Kläger und seine Ehefrau sind türkischer Abstammung. Sie lebten mit ihren drei Kinder in der Bundesrepublik. Im Sommer 1997 erwarben alle Familienmitglieder die deutsche Staatsangehörigkeit und gaben die türkische Staatsangehörigkeit auf. Aus dem in der Türkei verbrachten Sommerurlaub 1998 kehrte nur der Kläger nach Deutschland zurück. Seine Familie blieb in der Türkei, wo die Kinder die Schule besuchten. Der Kläger zog in eine 1 1/2-Zimmer-Wohnung und fuhr alle drei Monate jeweils für drei Monate zu seiner Familie in die Türkei. Seine drei Kinder hielten sich während der türkischen Sommerferien in den Jahren 2000 und 2001 in Deutschland auf und besuchten in dieser Zeit von Ende Juni bis Ende Juli die Schule. Dabei wohnten sie in der Wohnung eines Bekannten des Klägers. Seit August 2003 lebt die Familie des Klägers wieder in Deutschland, und der Kläger erhält wieder Kindergeld i.H. d. Beträge des § 66 Abs. 1 EStG.
Der Antrag auf Kindergeld i.H.v. 740 DM monatlich führt lediglich zur Festsetzung des sog. Abkommenskindergeldes von 95 DM monatlich (10 DM für das erste, 25 DM für das zweite und 60 DM für das dritte Kind).
Das FG (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.07.2007, 9 K 153/02 Haufe-Index 1963407, EFG 2008, 1216) wies die Klage ab ...
Entscheidung
… und der BFH die Revision als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Nach § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 1 S. 3 EStG kann Kindergeld (außer von den nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt Steuerpflichtigen) nur für Kinder beansprucht werden, die einen Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland, einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat haben. Zu diesen Staaten zählt die Türkei nicht.
2. Ob ein inländischer Wohnsitz gegeben ist oder die Inlandsaufenthalte nur Besuchscharakter haben, beruht weitgehend auf Tatsachenwürdigung; FG-Urteile sind insoweit nur eingeschränkt revisibel (BFH, Urteil vom 28.04.2010, III R 52/09, BFH/NV 2010, 1542, BFH/PR 2010, 331).
3. Das europäisch-türkische Assoziationsrecht enthält verschiedene Diskriminierungsverbote.
a) |
Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, haben nach Art. 3 Abs. 1 ARB 3/80 grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Diese Norm betrifft auch das Kindergeld und gilt nach der Rechtsprechung des EuGH unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Verboten sind nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale. Nach Einbürgerung und dem Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit ist der ARB 3/80 aber nicht mehr anwendbar. |
b) |
Art. 37 Zusatzprotokoll und Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 verbietet eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung von Arbeitnehmern in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und das Entgelt. Ob diese ebenfalls unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltenden Regelungen auch für das Kindergeld als Familienleistung gelten, hat der BFH dahinstehen lassen; sie begünstigen jedenfalls ausschließlich türkische Arbeitnehmer und gewähren daher nach einer Einbürgerung keinen Schutz mehr. |
c) |
Sinn und Zweck der Diskriminierungsverbote nach dem Assoziationsrecht EWG/Türkei gebieten keine Einbeziehung ehemals türkischer Staatangehöriger, die freiwillig die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. Im Bereich der sozialen Sicherheit erworbene Rechte oder Anwartschaften dürfen zwar nach der EuGH-Rechtsprechung durch einen Wechsel der Staatsangehörigkeit nicht zwingend verloren gehen. Ein Kindergeldanspruch wird aber anders als z.B. Rentenversicherungsansprüche nicht durch Beschäftigungszeiten erdient, sondern setzt die Erfüllung der Voraussetzungen der §§ 62ff. EStG im konkreten Zeitraum voraus. |
4. Das Vorläufige Europäische Abkommen über soziale Sicherheit von 1953 enthält ein Gleichbehandlungsgebot bezüglich nicht auf Beiträgen beruhender Leistungen für Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die auf dem Gebiet eines anderen Vertragsstaats seit mindestens sechs Monaten wohnen. Das Abkommen gilt trotz seiner "Vorläufigkeit" immer noch und verschafft türkischen Staatsbürgern einen Anspruch auf Kindergeld unter denselben Voraussetzungen wie Deutschen (BFH, Urteil vom 17.06.2010, III R 42/09, BFH/NV 2010, 2168, BFH/PR 2011, 20), schützt aber ebenfalls keine von der Bundesrepublik eingebürgerten Türken.
5. ...