Leitsatz
Hat der Kläger im Ausgangsverfahren ausschließlich wegen der überlangen Dauer dieses Verfahrens obsiegt, weil zu einem Zeitpunkt, in dem das Ausgangsverfahren bereits als verzögert anzusehen war, eine zugunsten des Klägers wirkende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Rechtsfrage eingetreten ist, hat der Kläger durch die überlange Dauer des Ausgangsverfahrens keinen "Nachteil" erlitten, sodass er weder eine Geldentschädigung noch die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer beanspruchen kann.
Normenkette
§ 198 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GVG
Sachverhalt
Der Entschädigungsklage lag der folgende Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger beantragte im Jahr 2004 die Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen gem. § 33 Abs. 2 EStG wegen der Kosten für einen zivilgerichtlichen Rechtsstreit. Das FA lehnte dies ab. Die 2005 beim FG erhobene Klage wurde durch Urteil im Jahr 2010 abgewiesen. Das Urteil wurde 2011 vom BFH wegen Verletzung rechtlichen Gehörs aufgehoben und an das FG zurückverwiesen. Im 2. Rechtsgang wurde die Klage ebenfalls abgewiesen. Der BFH ließ hiergegen erneut die Revision zu, weil er zwischenzeitlich seine Rechtsprechung zur Abziehbarkeit von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung geändert hatte (vgl. BFH, Urteil vom 12.5.2011, VI R 42/10, BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015). Nach Erledigung der Hauptsache wurden dem FA die Kosten des gesamten Verfahrens auferlegt.
Der Kläger erhob Entschädigungsklage wegen unangemessen langer Verfahrensdauer mit der Begründung, die Verfahrensdauer habe allein im ersten Rechtszug vor dem FG fast 5 Jahre gedauert. Dies sei unangemessen. Der Beklagte war demgegenüber u.a. der Auffassung, erst durch die relativ späte Entscheidung des FG sei dem Kläger die Rechtsprechungsänderung zugutegekommen.
Entscheidung
Der BFH wies die Klage aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen ab. Da er keinen Nachteil erlitten habe, habe der Kläger weder einen Anspruch auf Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer noch auf Entschädigung.
Hinweis
Nachdem der für Entschädigungsklagen in der Finanzgerichtsbarkeit zuständige X. Senat in seinem Urteil vom 7.11.2013 (X R 3/12, BFH/NV 2014, 259; siehe auch BFH/PR 2014, 106) erste Leitlinien entwickelt hat, gilt es nun, in den weiteren Urteilen Einzelaspekte zu klären.
1. Erleidet ein Verfahrensbeteiligter einen Nachteil aufgrund einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens, wird er angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich dann gem. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
2. Was ist jedoch ein Nachteil? Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist widerleglich und insbesondere dann widerlegt, wenn (sicher) festgestellt werden kann, dass die Verfahrensdauer für den betreffenden Verfahrensbeteiligten – abgesehen von der Dauer selbst – ausschließlich von erheblichem Vorteil war.
3. Die Prüfung, ob die Verfahrensdauer zu einem Nachteil geführt hat, setzt eine Gesamtbewertung der Folgen voraus, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat.
4. Die der langen Verfahrensdauer immanente Ungewissheit über den Verfahrensausgang mit der ihr eigenen Belastung für den rechtsschutzsuchenden Bürger kann für sich allein nicht dazu führen, dass – ungeachtet sonstiger Folgen der Verfahrensdauer – stets von einem Nachteil von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG auszugehen wäre. Da der der überlangen Verfahrensdauer immanente Nachteil der langen Ungewissheit unter der Voraussetzung überlanger Verfahrensdauer naturgemäß ausnahmslos vorliegt, würde mit einer derartigen Schlussfolgerung die widerlegliche Nachteilsvermutung tatsächlich zu einer unwiderleglichen Vermutung, was der Konzeption des Gesetzes nicht entspricht.
5. Hat der Verfahrensbeteiligte infolge der Dauer eines Gerichtsverfahrens keinen Nachteil erlitten, ist eine überlange Verfahrensdauer nicht mehr zu prüfen. Es findet keine Wiedergutmachung – weder durch die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer noch durch eine Entschädigung – statt, da diese einen ggf. vermuteten Nachteil zwingend voraussetzt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 20.11.2013 – X K 2/12