Leitsatz

1. Behandelt das FA einen vorübergehend im Inland tätigen Saisonarbeiter, der seinen Familienwohnsitz im EU-Ausland hat, als unbeschränkt steuerpflichtig, hängt die von der Familienkasse und dem FG vorzunehmende Prüfung der kindergeldrechtlichen Anspruchsberechtigung von der Art der persönlichen Steuerpflicht ab.

2. Das durch § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG geforderte Vorliegen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts des Anspruchstellers im Inland haben Familienkasse und FG ohne Bindung an die Feststellungen des FA im Besteuerungsverfahren zu prüfen.

3. Die Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG setzt voraus, dass das FA den Anspruchsteller aufgrund einer entsprechenden Ausübung seines Antragswahlrechts nach § 1 Abs. 3 EStG als fiktiv unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat. Ergibt sich eine vom FA vorgenommene Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Steuerbescheids selbst, kommt es darauf an, ob der Anspruchsteller nach den ihm im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte den objektiven Inhalt des Bescheids so verstehen konnte, dass seinem Antrag entsprochen wurde.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b, § 1 Abs. 1, Abs. 3 EStG, § 8, § 9, § 124 Abs. 1 Satz 2 AO

 

Sachverhalt

Der Kläger wohnt mit seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen minderjährigen Kindern in Polen, wo er als selbstständiger Landwirt tätig ist und von 1991 bis zum 9.1.2006 sowie seit dem 5.3.2006 der polnischen Renten-, Unfall- und Krankenversicherung unterlag.

Vom 11.1.2005 bis 1.4.2005 sowie vom 9.1.2006 bis 4.3.2006 war er in Deutschland als nicht sozialversicherungspflichtige Saisonarbeitskraft in einem Gemüsebaubetrieb tätig. Das FA behandelte ihn als unbeschränkt steuerpflichtig und setzte die Einkommensteuer für 2005 und 2006 auf jeweils 0 EUR fest. Polnische Familienbeihilfe für ihre Kinder erhielten der Kläger und seine Ehefrau ab Januar 2005 nicht.

Den Antrag des Klägers auf deutsches Kindergeld lehnte die Familienkasse ab. Das FG Düsseldorf (Urteil vom 31.7.2008, 15 K 4375/07 Kg, Haufe-Index 2056806) gab seiner Klage statt und verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis April 2005 sowie Januar bis März 2006 i.H.v. jeweils 154 EUR pro Kind und Monat.

 

Entscheidung

Die Revision war begründet und führte zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Im zweiten Rechtsgang ist aufzuklären, ob das FA den Kläger als nach § 1 Abs. 3 EStG unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat, in welchen Monaten er inländische Einkünfte erzielt hat und ob nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen zu berücksichtigen ist.

 

Hinweis

Das Urteil konkretisiert die von den FG im Hinblick auf die unbeschränkte Steuerpflicht von Kindergeldberechtigten zu treffenden Feststellungen.

1. Anspruch auf Kindergeld hat u.a., wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Nr. 2 Buchst. b).

2.Wer nicht über einen Wohnsitz im Inland verfügt, aber vom FA – z.B. infolge der Abgabe einer Einkommensteuererklärung unter einer inländischen Adresse – als nach § 1 Abs. 1 EStG unbeschränkt Steuerpflichtiger veranlagt wird, hat keinen Anspruch auf Kindergeld. Das FG muss demzufolge den inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Anspruchstellers auch dann prüfen, wenn diese Annahme dem Einkommensteuerbescheid zugrunde liegt. Es genügt nicht, im Urteil festzustellen, die Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht seien von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen worden.

3. Ob der Anspruchsteller nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde, bestimmt sich zunächst nach dem Inhalt des Steuerbescheids. Wenn dem Bescheid – wie üblich – nicht unmittelbar entnommen werden kann, ob das FA von einer unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG ausgegangen ist, muss geprüft werden, ob das Antragswahlrecht gegenüber dem FA entsprechend ausgeübt wurde. Denn die Auslegung eines Bescheids richtet sich gem. § 124 Abs. 1 Satz 2 AO nach dem objektiven Empfängerhorizont und nicht nach dem von der Behörde Gewollten. Weil es darauf ankommt, wie der Adressat den Bescheid nach Treu und Glauben verstehen durfte, sind die Umstände des Veranlagungsverfahrens unter Rückgriff auf die Veranlagungsakten aufzuklären.

4.Kindergeld kann von einem nach § 1 Abs. 3 EStG unbeschränkt steuerpflichtig Behandelten nur für die Monate beansprucht werden, in denen er inländische Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt. Daher ist bei Arbeitnehmern auf den Zufluss des Arbeitslohns und nicht auf den Zeitraum der Tätigkeit abzustellen. Ob Kindergeld auch für Monate mit negativen Einkünften beansprucht werden kann – z.B. den Vormonat der Arbeitsaufnahme, in dem ein Bahnticket erworben wurde – hat der BFH noch nicht ...

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