Leitsatz
Aufwendungen in Zusammenhang mit der Beseitigung oder Linderung von Körperschäden, die durch einen Unfall auf einer beruflich veranlassten Fahrt zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte eingetreten sind, können gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG als Werbungskosten abgezogen werden. Sie werden von der Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale nicht erfasst. Diese erstreckt sich nur auf fahrzeug- und wegstreckenbezogene Aufwendungen.
Normenkette
§ 9 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 Nr. 4 Sätze 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin erlitt im Streitjahr (2013) auf dem Weg von ihrer regelmäßigen Arbeitsstätte (bis VZ 2013, ab VZ 2014 erste Tätigkeitsstätte; im Folgenden: erste Tätigkeitsstätte) zu ihrer Wohnung einen Autounfall. Hierdurch kam es u.a. zu schweren Verletzungen im Gesicht. Die Klägerin wurde daraufhin stationär operiert. Die zuständige Berufsgenossenschaft übernahm die Kosten für die Operation nach den für den Sozialversicherungsträger geltenden Sätzen entsprechend der Fallpauschale. Die darüber hinausgehenden Kosten für die Operation zahlte die Klägerin selbst. Diese Aufwendungen machte sie neben weiteren Behandlungs- und damit in Zusammenhang stehenden Fahrtkosten als Werbungskosten bei ihren Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit geltend.
Das FA erkannte die Werbungskosten auch im Einspruchsverfahren nicht an. Die daraufhin erhobene Klage wies das FG ab (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.1.2018, 5 K 500/17, Haufe-Index 13151985, EFG 2018, 1444).
Entscheidung
Auf die Revision der Klägerin hat der BFH das angefochtene Urteil aus den in den Praxis-Hinweisen ausgeführten Gründen aufgehoben und der Klage stattgegeben.
Hinweis
1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung sind Werbungskosten auch Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 4 EStG. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist nach Satz 2 der Vorschrift für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die erste Tätigkeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte von 0,30 EUR anzusetzen, höchstens jedoch 4.500 EUR im Kalenderjahr; ein höherer Betrag als 4.500 EUR ist anzusetzen, soweit der Arbeitnehmer einen eigenen oder ihm zur Nutzung überlassenen Kraftwagen benutzt.
2. Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG sind durch die Entfernungspauschalen sämtliche Aufwendungen und damit im Grundsatz auch Unfallkosten und andere außergewöhnliche Kosten, die durch die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte veranlasst sind, unabhängig von ihrer Höhe abgegolten (BFH, Urteil vom 20.3.2014, VI R 29/13, BFH/NV 2014, 1284, zu Reparaturaufwendungen nach einer Falschbetankung).
Auffassung der Finanzbehörden "großzügiger"
Entgegen der Rechtsprechung des BFH lassen die Finanzbehörden in bestimmten Konstellationen auch Aufwendungen für die Beseitigung von fahrzeugbezogenen Unfallschäden zum Werbungskostenabzug zu. Wenn der Steuerpflichtige etwa auf einer Umwegfahrt zum Betanken verunfallt oder sich der Unfall – unter weiteren einschränkenden Voraussetzungen – auf einer Leerfahrt des Ehegatten/Lebenspartners zwischen der Wohnung und der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels oder auf der Abholfahrt des Ehegatten/Lebenspartners ereignet. Entsprechendes gilt bei einer Umwegstrecke zur Abholung der Mitfahrer einer Fahrgemeinschaft unabhängig von der Gestaltung der Fahrgemeinschaft (BMF vom 31.10.2013, BStBl I 2013, 1376, Rz. 4 und H 9.10 LStH"Unfallschäden").
3. Die Abgeltungswirkung der Entfernungspauschalen gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 EStGerstreckt sich jedoch nur auf "Aufwendungen für die Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte" i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Sätze 1 und 2 EStG sowie für Familienheimfahrten i.S.v. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Sätze 5 und 6 EStG, also auf "echte" Wege- bzw. Fahrtkosten und damit nur auf die fahrzeug‐ und wegstreckenbezogenen Aufwendungen.
4. Andere Aufwendungen, insbesondere Aufwendungen in Zusammenhang mit der Beseitigung oder Linderung von Körperschäden, die durch einen Unfall auf einer beruflich veranlassten Fahrt zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte eingetreten sind, werden von der Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale dagegen nicht erfasst.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 19.12.2019 – VI R 8/18