Leitsatz
Hat das FA einen Haftungsgegenstand durch einen bestandskräftig gewordenen Haftungsbescheid geregelt, steht dessen Bestandskraft bei unveränderter Sach- und Rechtslage der erneuten Regelung des gleichen Sachverhalts durch Erlass eines ergänzenden, neben den ersten Haftungsbescheid tretenden Haftungsbescheids entgegen. Hiervon unberührt bleibt die Korrektur des vorangegangenen Haftungsbescheids nach den Vorschriften der §§ 129, 130 und 131 AO.
Normenkette
§ 191 Abs. 1 AO , § 129 AO , § 130 AO , § 131 AO
Sachverhalt
Der Gesellschafter-Geschäftsführer einer inzwischen aufgelösten OHG war für eine Umsatzsteuerabschlusszahlung 1992 vom FA mit bestandskräftig gewordenem Haftungsbescheid 1995 nach §§ 421, 427 BGB sowie § 69 AO in Haftung genommen worden. 1999 erließ das FA einen weiteren, auf § 128 HGB gestützten Haftungsbescheid gegen ihn über noch offene, erst nach Erlass des ersten Haftungsbescheids fällig gewordene Umsatzsteuer der OHG für 1992 sowie Säumniszuschlägen und Zinsen.
Entscheidung
Der BFH hält den angefochtenen (zweiten) Haftungsbescheid hinsichtlich der Haftung für die Umsatzsteuer der OHG für 1992 wegen der Bestandskraft des ersten Haftungsbescheids für rechtswidrig. Denn dieser regle die Haftung des Klägers für Umsatzsteuer 1992 umfassend und sei vom FA ausdrücklich nicht zurückgenommen oder geändert worden. Soweit der zweite Haftungsbescheid den Kläger für Zinsen und Säumniszuschläge in Anspruch genommen hat, sei die Haftung hingegen nicht Gegenstand des ersten Haftungsbescheids gewesen, so dass dessen Bestandskraft nicht entgegenstehe.
Hinweis
1. Meistens äußert sich ein Haftungsbescheid nicht ausdrücklich dazu, ob er nur regeln will, dass der Haftungsschuldner einen bestimmten Haftungsbetrag (aus bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Gründen) zahlen soll oder ob zugleich mehr geregelt werden soll, nämlich dass ein weitergehender Haftungsanspruch wegen bestimmter (welcher?) Haftungstatbestände vom FA nicht geltend gemacht werden wird, der Haftungsschuldner also nicht mehr zahlen muss als jetzt verlangt. Ob eine solche "negative" Regelung (stillschweigend) getroffen wird, muss durch Auslegung ermittelt werden – sofern nicht bestimmte rechtliche Überlegungen nur eine bestimmte Auslegung überhaupt zulässig machen. Die Frage stellt sich vor allem dann, wenn das FA später etwas nachfordern will, ohne den ersten Haftungsbescheid aufheben oder ändern zu können oder zu wollen; denn dann kann der Nachforderung unter Umständen die Bestandskraft des ersten Bescheids entgegenstehen.
2. Ob eine Nachforderung von Haftungsbeträgen nach Erlass eines ersten Haftungsbescheids – ohne dessen Rücknahme oder Widerruf – zulässig ist, hängt mithin davon ab, was der erste Bescheid (ggf. sinngemäß, stillschweigend) geregelt hat. Der BFH hat vielfach formuliert, der Haftungsbescheid entscheide über den "Haftungsfall". Das klingt so, als ob der Haftungsbescheid über den durch eine bestimmte pflichtwidrige Handlung oder Unterlassung des Haftenden ausgelösten, gesamten Schaden des FA entschiede. Das ist aber hinsichtlich der steuerlichen Nebenleistungen, die der Steuerschuldner infolge der zur Haftung führenden Handlung oder Unterlassung schuldig geblieben ist, nicht der Fall.
Jedenfalls soll nach dem BFH-Urteil vom 16.12.2003, VII R 77/00 (BFH-PR 2004, 198) die Entscheidung über die Haftung für Säumniszuschläge ein selbstständiger Teil eines Haftungsbescheids sein und daher in (Teil-)Rechtskraft erwachsen. Anders als die unselbstständigen Besteuerungsgrundlagen beim Steuerbescheid, die keiner selbstständigen Anfechtung fähig sind, stelle die Inanspruchnahme für die Säumniszuschläge also nicht lediglich i.S. einer Schadensposition die Begründung für den festgesetzten Haftungsbetrag, sondern einen wesensbestimmenden Bezugspunkt des Haftungsbescheids dar. Wegen Säumniszuschlägen kann der Haftungsschuldner also ohne weiteres nachträglich in Anspruch genommen werden, z.B. wenn das FA die Inanspruchnahme deswegen zunächst vergessen hatte. Für andere Nebenleistungen müsste konsequenterweise das Gleiche angenommen werden.
3. Offen war bisher, ob die Inanspruchnahme wegen eines bestimmten Steuerbetrags stillschweigend bedeutet, dass ein Haftungsanspruch wegen einer höheren Steuerforderung nicht mehr geltend gemacht werde. Diese Frage wird im Schrifttum ganz allgemein dahingestellt, ob ein Geldleistungsverwaltungsakt (stillschweigend) regle, dass nicht mehr gefordert werde. Im allgemeinen Verwaltungsrecht wird diese Frage überwiegend verneint, im Steuerrecht überwiegend bejaht, was bei einer komplexen Steuerberechnung wie insbesondere dem Einkommensteuerbescheid zweifellos richtig, bei rein "additiven" Steuerberechnungen z.B. bei einer Verbrauchsteuer, aber auch der Umsatzsteuer freilich recht zweifelhaft ist: Warum sollte das FA hier regeln wollen, dass es – etwa wenn es eine falsche Berechnung bemerkt – nichts nachfordern will? Man wird diese Fragen freilich differenziert diskutieren können, je nachdem, ob die Steuerforderung, ...