Dipl.-Finw. (FH) Helmut Lehr
Leitsatz
Eine bloße (wissentliche) Duldung der Tätigkeit des Schuldners durch den Insolvenzverwalter gilt nicht als verwalten bzw. verwerten der Insolvenzmasse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Diesbezügliche Umsatzsteuerschulden entstehen nicht als Masseverbindlichkeiten.
Sachverhalt
Streitig ist die Behandlung von Umsatzsteuer als Masseverbindlichkeit. Mit Beschluss vom 22.10.2012 wurde das Insolvenzverfahren über ein Holz- und Baugeschäft eröffnet. Am 16.1.2013 verfasste der zum Insolvenzverwalter bestellte Kläger eine schriftliche Erklärung an den Schuldner, in der er ausführte, hiermit gebe er die selbständige Tätigkeit "Holz- und Bautenschutz" aus der Insolvenzmasse frei. Das beklagte Finanzamt teilte dem Steuerfall eine Insolvenzsteuernummer, eine Massesteuernummer sowie eine Steuernummer für die freigegebene Tätigkeit zu. Unter der Massesteuernummer erklärte der Kläger Umsätze in Höhe von 0 EUR. Der Schuldner reichte keine Erklärung ein. Später schätzte das Finanzamt den streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheid zur Massesteuernummer, indem es für den Zeitraum vom 23.10.2012 bis 31.12.2012 aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners Umsätze in Höhe von rund 3.000 EUR schätzte. Das Finanzamt war der Auffassung, die Freigabe der Tätigkeit aus der Insolvenzmasse sei erst mit der schriftlichen Erklärung vom 16.1.2013 erfolgt und die Umsatzsteuer deshalb eine Masseverbindlichkeit.
Hintergrund: Übt der Schuldner eine selbständige Tätigkeit aus oder beabsichtigt er, demnächst eine solche Tätigkeit auszuüben, hat der Insolvenzverwalter ihm gegenüber gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO zu erklären, ob Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sind Masseverbindlichkeiten die Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören.
Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg. Es kann dahinstehen, ob bereits zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses am 22.10.2012 eine wirksame Erklärung über die Freigabe der gewerblichen Tätigkeit des Schuldners aus der Insolvenzmasse vorlag. Die Umsatzsteuer, die auf Umsätze aus dieser Tätigkeit für den Streitzeitraum zu erheben ist, stellt auch bei einer bloßen Duldung durch den Kläger keine Masseverbindlichkeit dar. Der Gesetzgeber hat auf die Regelung einer Rechtsfolge für den Fall verzichtet, dass der Verwalter eine Erklärung im Sinne von § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht abgibt. Folgerichtig verbleibt es für diesen Fall bei der Rechtslage, wie sie vor Einfügung der Absätze 2 und 3 in § 35 InsO Bestand hatte: Einnahmen aus einer selbständigen Tätigkeit des Schuldners nach der Insolvenzeröffnung fallen nach § 35 InsO in die Insolvenzmasse, während die damit im Zusammenhang stehenden Ausgaben und Verbindlichkeiten (z. B. Umsatzsteuer) sich nur dann gegen die Insolvenzmasse richten, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 InsO erfüllt sind. Danach sind Masseverbindlichkeiten diejenigen Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören. Die bloße Duldung der gewerblichen Tätigkeit des Schuldners durch den Kläger erfüllt nicht das Merkmal der "Verwaltung" im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Folglich lagen nach Ansicht des Finanzgerichts keine Masseverbindlichkeiten vor.
Hinweis
Der BFH, Urteil v. 18.12.2019, XI R 10/19, hat über das Revisionsverfahren entschieden. Das Urteil des Finanzgerichts wurde aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Danach gilt: Hat der Insolvenzverwalter Kenntnis davon, dass der Insolvenzschuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt, oder war eine solche Tätigkeit für ihn erkennbar, ist er in einem nach dem 30.6.2007 eröffneten Insolvenzverfahren gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO verpflichtet, unverzüglich zu erklären, ob er die Tätigkeit aus der Insolvenzmasse freigibt oder nicht. Verletzt er diese Pflicht, führt sein pflichtwidriges Unterlassen dazu, dass Verbindlichkeiten "in anderer Weise" im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet werden (vgl. hierzu auch BFH, Urteil v. 6.6.2019, V R 51/17). Eine formfrei mögliche Freigabeerklärung wirkt grundsätzlich erst ab ihrem Zugang beim Insolvenzschuldner (ex nunc).
Link zur Entscheidung
Sächsisches FG, Urteil v. 20.10.2017, 6 K 75/16