Leitsatz
1. Entscheidet das FG auch über Kindergeldansprüche, die einen nicht vom Klagebegehren umfassten Zeitraum betreffen, liegt insoweit ein von Amts wegen zu beachtender Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO vor. Ein derartiger Fall kann gegeben sein, wenn das FG über Kindergeldansprüche entscheidet, die nach dem Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung liegen.
2. Dieser Verfahrensfehler kann in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 3 FGO zur isolierten Aufhebung des FG-Urteils führen.
Normenkette
§ 96 Abs. 1 Satz 2, § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 126 Abs. 1 und Abs. 3, § 155 FGO, § 554 ZPO
Sachverhalt
Der Kläger, ein in Deutschland lebender Portugiese, hat vier Kinder. Zwei von ihnen leben in Portugal bei seiner geschiedenen Ehefrau, die dort eine Beschäftigung ausübt und für die Kinder einen portugiesischen Familienzuschlag in Höhe von jeweils 22,59 EUR erhält. Mit seiner zweiten Ehefrau hat der Kläger zwei weitere in Deutschland lebende Kinder.
Im April 2010 beantragte der Kläger Kindergeld für vier Kinder. Die Familienkasse lehnte dies in der Einspruchsentscheidung vom 6.5.2011 für die in Portugal lebenden Kinder ab.
Die auf Differenzkindergeld für die in Portugal lebenden Kinder ab Mai 2010 gerichtete Klage war teilweise erfolgreich. Das FG (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.5.2012, 12 K 12134/11, Haufe-Index 3570483) wies die Klage zwar für den Zeitraum Mai 2010 bis August 2011 ab, verpflichtete aber die Familienkasse, den Kläger für den Zeitraum ab September 2011 neu zu bescheiden. Aufgrund der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit des Klägers in Berlin ab September 2011 sei der Anspruch von diesem Zeitpunkt an weder nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO (EG) Nr. 883/2004 noch nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ausgeschlossen.
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse führte zur Aufhebung des FG-Urteils, soweit es den Zeitraum ab September 2011 betraf. Die den Zeitraum Mai 2010 bis August 2011 betreffende (unselbstständige) Anschlussrevision des Klägers war verspätet eingelegt und damit unzulässig.
Hinweis
1. Die Ablehnung oder Aufhebung der Kindergeldfestsetzung bindet bekanntlich nur bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe des Bescheids bzw. der nachfolgenden Einspruchsentscheidung. Daher kann das FG den Kindergeldanspruch nur bis zu diesem Monat in zulässiger Weise zum Gegenstand einer gerichtlichen Inhaltskontrolle machen. Eine Klage, mit der Kindergeld auch für einen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung liegenden Zeitraum begehrt wird, ist insoweit unzulässig. Der BFH geht mit Klägern allerdings fürsorglich um und legt ihre Anträge so aus, dass sie sich nur auf den Zeitraum bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung beziehen oder dass mit ihnen außerhalb des Klageverfahrens Kindergeld begehrt wird, wodurch zugleich eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO eintritt (BFH, Urteil vom 22.12.2011, III R 41/07, BFH/NV 2012, 1028, BFH/PR 2012, 240).
2. Entscheidet das FG über einen nach der Einspruchsentscheidung liegenden Monat, ohne dass der Kläger dies beantragt hat, so verstößt es gegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, der es dem Gericht untersagt, über das Klagebegehren hinauszugehen. Das FG-Urteil ist insoweit in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 3 FGO isoliert aufzuheben. Eine isolierte Aufhebung der Vorentscheidung sieht der Wortlaut des § 126 FGO zwar nicht vor. Sie ist aber möglich, wenn der Verfahrensfehler nur durch eine Aufhebung beseitigt werden kann und es keiner Zurückverweisung an das FG bedarf.
Die Aufhebung des FG-Urteils für den Zeitraum nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung hindert den Kläger nicht, für diesen Zeitraum erneut Kindergeld zu beantragen.
3. Entscheidet das FG "ultra petita", indem es die Klage für einen Zeitraum nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung abweist, und wird für einen Teil dieses Zeitraums kein Revisionsantrag gestellt, so dürfte das Urteil insoweit materiell rechtskräftig werden. Der BFH hat dies jedoch mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 25.9.2014 – III R 36/12