Leitsatz
1. Eine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten (§ 180 ZPO) setzt voraus, dass zuvor ein erfolgloser Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen des Adressaten (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) unternommen wurde.
2. Allein aus den allgemeinen während der Covid-19-Pandemie geltenden Kontaktbeschränkungen kann nicht abgeleitet werden, dass in dieser Zeit eine Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten ohne vorherigen Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen als wirksam anzusehen wäre.
Normenkette
§ 53 Abs. 2, § 97 FGO, § 178 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, § 180 Satz 1, § 182 Abs. 1, § 189, § 418 Abs. 1 und 2 ZPO
Sachverhalt
Das Urteil des FG (FG München, Urteil vom 10.6.2021, 13 K 1825/19, Haufe-Index 15198239) wurde im Wege der förmlichen Zustellung mittels Zustellungsurkunde in den Briefkasten der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger eingelegt. Auf dem Briefumschlag ist der 19.6.2021, ein Samstag, als Zustellungsdatum vermerkt. Die Revision der Kläger ging erst am 20.7.2021 beim BFH ein. Die Kläger machten geltend, die Zustellungsurkunde sei unrichtig. Während der Covid-19-Pandemie hätten die jeweiligen Postzusteller bei keiner förmlichen Zustellung eine persönliche Übergabe des Schriftstücks versucht. Daher sei die Zustellung erst am Montag, den 21.6.2021 erfolgt.
Die Deutsche Post AG hat verneint, die Zusteller generell angewiesen zu haben, während der Covid-19-Pandemie vom Versuch einer persönlichen Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks abzusehen. In der Beweisaufnahme vor dem BFH sagte demgegenüber der betreffende Zusteller glaubhaft aus, er sei von seinem Amtsleiter mündlich angewiesen worden, infolge der Covid-19-Pandemie lediglich kontaktlos zuzustellen und insbesondere auf das Klingeln beim Empfänger zu verzichten. Dies habe er an dem fraglichen Tag auch so gemacht.
Entscheidung
In einem Zwischenurteil stellte der BFH fest, die Revision sei in zulässiger Weise erhoben worden. Die Ersatzzustellung des FG-Urteils durch Einlegen in den Briefkasten sei unwirksam, weil der Zusteller zuvor nicht versucht habe, das Schriftstück persönlich zu übergeben.
Hinweis
Hat der Zusteller geklingelt oder nicht? Auf diese Frage konzentrierte sich eine (bei einem Revisionsgericht doch eher seltene) Beweisaufnahme des BFH, aufgrund derer zu klären war, wann in Zeiten der Covid-19-Pandemie ein Urteil wirksam zugestellt worden ist.
1. Finanzgerichtliche Urteile werden von Amts wegen nach den Vorschriften der ZPO zugestellt (§ 53 Abs. 2 FGO). Der Gesetzgeber hat aufgrund von § 177 ZPO daran festgehalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet.
2. Eine Ersatzzustellung gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO kann nur vorgenommen werden, wenn der Zustellungsadressat nicht angetroffen wird und daher eine vorrangige persönliche Übergabe nicht möglich ist. Sie erfolgt dann durch Übergabe entweder in der Wohnung oder in den Geschäftsräumen an berechtigte Personen.
3. Nach § 180 Satz 1 ZPO setzt die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ihrerseits voraus, dass die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht ausführbar ist, insbesondere weil dort keiner der in diesen Vorschriften bezeichneten Ersatzempfänger persönlich angetroffen wurde. Dies gebietet aber, dass eine Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, z.B. durch Klingeln, tatsächlich versucht wurde.
4. Diese gesetzlichen Zustellungsvorgaben gelten auch zu Zeiten der Covid-19-Pandemie. Obwohl das Bundesrecht in zahlreichen anderen Rechtsbereichen pandemiebedingte Erleichterungen geschaffen hat, fehlt zu §§ 178, 180 ZPO eine entsprechende Ausnahmeregelung. Auch das – im Streitfall maßgebliche – bayerische Landesrecht enthält keine Vorschriften, die die gesetzlichen Vorgaben des § 180 Satz 1 ZPO aus Gründen des Infektionsschutzes modifiziert hätten. Daher konnte der BFH offenlassen, ob der Landesgesetzgeber überhaupt die bundesrechtlichen Zustellungsregelungen hätte modifizieren können.
5. Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, tritt eine Heilung nach § 189 ZPO erst in dem Zeitpunkt ein, in dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hand bekommt.
6. Obwohl eine Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der von ihr bezeugten Tatsachen begründet, ist nach § 418 Abs. 2 ZPO der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten Tatsachen zulässig.
7. Der Gegenbeweis ist in diesem Kontext u.a. geführt, wenn der Zusteller bekundet, er habe in dem betreffenden Zeitraum grundsätzlich nicht den Versuch unternommen, zuzustellende Schriftstücke persönlich zu übergeben. Vielmehr habe er sie regelmäßig in den Briefkasten eingelegt und dies in der Urkunde entsprechend dokumentiert. Eine solche Zustellung ist unwirksam.
Fristenkontrolle ist zwingend
Unter Berufung auf dieses Zwischenurteil könnte im Falle einer Fristversäumung ggf. die wirksame Zustellu...