Leitsatz
1. Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren setzt voraus, dass der Unternehmer gutgläubig war und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu überzeugen und seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist.
2. Im Billigkeitsverfahren muss das Finanzamt nicht das Vorliegen objektiver Umstände nachweisen, die den Schluss zulassen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Das ist nur dann erforderlich, wenn der Vorsteuerabzug trotz Vorliegens dessen objektiver Merkmale wegen der Einbindung des Unternehmers in eine missbräuchliche Gestaltung versagt werden soll.
3. Es stellt keinen Ermessensfehler dar, wenn eine Behörde ihre Entscheidung auf mehrere Ermessenserwägungen stützt, von denen zwar eine oder einzelne fehlerhaft sind, die Behörde aber eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass jede einzelne der Ermessenserwägungen bereits allein tragend ist.
Normenkette
§ 15 UStG, § 163, § 227 AO, § 102 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin machte den Vorsteuerabzug aus zwei Rechnungen der Fa. H (Prag/Tschechien) geltend. Auf den Rechnungen ist eine Steuernummer mit einer vierstelligen Ziffernfolge im dritten Ziffernblock angegeben. Die Rechnungen enthalten den Hinweis, dass die Verladung im Lager N (Inland) bei der Fa. M nur in Absprache mit dem Mitarbeiter J erfolgen dürfe. Mit Schreiben vom 3.3.2008 teilte das Finanzamt X dem beklagten FA mit, dass die Fa. H keine Geschäftstätigkeit ausgeübt und niemals Verfügungsmacht über die angeblich an die Klägerin gelieferten Waren gehabt habe. Die streitgegenständlichen Rechnungen seien deshalb zu Unrecht ausgestellt worden. Das Finanzamt X legte dazu Niederschriften über die Beschuldigtenvernehmung von Frau B, der Geschäftsführerin der Fa. H, vom 17.11.2006 und über die Zeugenvernehmung von A.K., dem Geschäftsführer der Klägerin, vom 8.11.2007 vor. Im Rahmen der daraufhin von der Steuerfahndungsstelle des Finanzamts durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen wurde festgestellt, dass die Waren von einer niederländischen Spedition ab dem Lager der Fa. M in N (Inland) direkt zum Abnehmer nach Italien transportiert wurden. Die Klägerin stellte die Lieferungen dem italienischen Abnehmer in Rechnung, der diese per Überweisung bezahlte. Die Klägerin überwies die Rechnungsbeträge auf das auf den Rechnungen angegebene Konto einer Schweizer Bank. Feststellungen zu einem Herrn J konnten nicht getroffen werden. Ein Mitarbeiter der Fa. M sagte als Zeuge aus, dass er einen Herrn J nicht kenne. Des Weiteren wurde festgestellt, dass die Fa. H im Handelsregister des Stadtgerichts Prag eingetragen war und über eine tschechische UStIdNr. verfügte. Das FA setzte daraufhin mit Steueränderungsbescheid vom 4.12.2008 die Umsatzsteuer für 2006 unter Versagung der Vorsteuer aus den beiden Rechnungen der Fa. H fest. Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein und beantragte eine abweichende Festsetzung der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen, die mit Bescheid vom 2. Februar 2010 abgelehnt wurde. Den hiergegen eingelegten Einspruch und den Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid vom 4.12.2008 verband das FA zu gemeinsamer Entscheidung und wies beide Einsprüche mit Einspruchsentscheidung vom 22.2.2011 als unbegründet zurück. Die Klage hatte zum Teil Erfolg. Das Finanzgericht (FG München, Urteil vom 20.5.2014, 2 K 875/11, Haufe-Index 7044009) bestätigte den Steueränderungsbescheid vom 4.12.2008 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung, hob aber den Bescheid vom 2.2.2010 über die Ablehnung einer abweichenden Festsetzung der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 22.2.2011 wegen fehlerhafter Ermessensausübung auf.
Entscheidung
Der BFH bestätigte im Ergebnis die Entscheidung der Vorinstanz und wies die Revision des Finanzamts als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Der V. Senat des BFH geht weiter davon aus, dass der EuGH in seinen Urteilen Mahagebén und Dávid vom 21.6.2012, C–80/11 und C–142/11 (EU:C:2012:373), Maks Pen vom 13.2.2014, C–18/13 (EU:C:2014:69) und Bonik vom 6.12.2012, C–285/11 (EU:C:2012:774) das Recht auf Vorsteuerabzug nicht durch Vertrauensschutzgesichtspunkte erweitert, sondern begrenzt, indem er den Vorsteuerabzug selbst dann versagt, wenn dessen Voraussetzungen zwar tatsächlich vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (BFH, Urteil vom 22.8.2015, V R 23/14, BFH/NV 2015, 1038, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz. 36). Hierfür muss das Finanzamt objektive Umstände nachweisen, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige das Recht auf Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise ...