Leitsatz
1. Die bloße Vermutung, dass eine Adresse, an die sich der Zustellungsempfänger bei der Meldebehörde abgemeldet hat, eine Scheinadresse ist, rechtfertigt eine öffentliche Zustellung nicht. Erforderlich sind vielmehr Tatsachen, die es von vornhein als ausgeschlossen erscheinen lassen, dass der Zustellungsempfänger unter der von ihm genannten Anschrift wohnt.
2. Die unwirksame öffentliche Zustellung eines Bescheides kann durch die Übersendung einer Fotokopie geheilt werden.
Normenkette
VwZG § 9 Abs. 1 und , VwZG § 9 Abs. 2, , VwZG § 14 Abs. 1, , VwZG § 15 Abs. 1 Buchst. a und , VwZG § 15 Abs. 1 Buchst. c , AO 1977 § 122 Abs. 1 Satz 3
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BFH, Urteil vom 06.06.2000, VII R 55/99
Das FA hatte gegen den – als Geschäftsführer einer GmbH tätig gewesenen – Kläger wegen Lohnsteuerrückständen der GmbH einen Haftungsbescheid erlassen. Nachdem die Zustellung des Bescheids an eine Anschrift in A zweimal erfolglos geblieben und die Postzustellungsurkunden (PZU) jeweils mit dem Vermerk „unbekannt verzogen” zurückgekommen waren, teilte das Einwohnermeldeamt dem FA auf telefonische Anfrage mit, dass sich der Kläger nach P in Polen abgemeldet habe; diese Anschrift sei aber vermutlich nur eine Scheinadresse. Das FA verfügte daraufhin im Februar 1993 die Zustellung des Bescheids durch öffentliche Bekanntmachung ( § 15 VwZG ). Den Kläger-Vertretern übersandte das FA auf deren Anforderung am 27.9.1993 eine Kopie des Haftungsbescheids. Den mit Schreiben vom 30.9.1993 eingelegten Einspruch verwarf das FA wegen verspäteter Einspruchseinlegung als unzulässig.
Der BFH entschied dagegen, dass der Einspruch des Klägers fristgerecht erfolgt ist, weil die Einspruchsfrist wegen der Unwirksamkeit der im Februar 1993 erfolgten Zustellung nicht zu laufen begonnen habe. Nach Auffassung des BFH sind an die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung hohe Anforderungen zu stellen. Für die nach dem Gesetz vorausgesetzte Annahme, dass der „ Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt” ist ( § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG ), reicht es nicht aus, dass nur die zustellende Behörde die Anschrift nicht kennt; vielmehr muss sich die Behörde wegen der schwerwiegenden Folgen der öffentlichen Zustellung (Zustellungsfiktion!) um eine gründliche und sachdienliche Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsort bemühen. Die im Streitfall vom FA angestellten Ermittlungen zum Aufenthaltsort des Klägers rechtfertigen nach Ansicht des BFH nicht die Schlussfolgerung, dass der Aufenthaltsort des Klägers „unbekannt” i.S. des § 15 VwZG ist. Das FA hätte sich nach Meinung des BFH mit der Vermutung der Meldebehörde, die neue Adresse in Polen sei nur eine Scheinadresse, nicht begnügen dürfen; es hätte vielmehr einen Zustellversuch unter der neuen Adresse unternehmen müssen. Auch das Vorliegen der Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung nach § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG hat der BFH verneint. Nach dieser Vorschrift ist die öffentliche Zustellung zulässig, wenn die Zustellung nach dem für Auslandszustellungen vorgesehenen Verfahren (über die diplomatischen Vertretungen; § 14 VwZG ) unausführbar ist oder keinen Erfolg verspricht.
Die Mängel der förmlichen Zustellung sind durch die Übersendung der Fotokopie an die Kläger-Vertreter nach § 9 Abs.1 VwZG geheilt worden. Mit der Heilung der Bekanntgabemängel im September 1993 ist der Bescheid gegen den Kläger wirksam geworden. Von da an begann die Einspruchsfrist zu laufen. Der wenige Tage nach der Übersendung der Fotokopie eingelegte Einspruch war demgemäß fristgerecht.