Leitsatz
1. Die Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit sind – außer in den Fällen des § 72 EStG – für den Familienleistungsausgleich sachlich zuständig. Die Familienkasse Sachsen ist örtlich zuständig, wenn ein "Anspruchsberechtigter oder anderer Elternteil bzw. ein anspruchsbegründendes Kind ... ihren Wohnsitz ... in Polen" haben.
2. Hat eine örtlich unzuständige Familienkasse den Antrag auf Kindergeld abgelehnt, kann sie auf den Einspruch hin entweder ihren Ablehnungsbescheid aufheben und den Antrag an die örtlich zuständige Familienkasse weiterleiten oder die Entscheidung über den Einspruch der zuständigen Familienkasse überlassen.
Normenkette
§ 62 Abs. 2, § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4, § 72 EStG, § 16, § 125 Abs. 3 Nr. 1, § 127, § 367 Abs. 1 AO, § 5 Abs. 1 Nr. 11 FVG
Sachverhalt
Die Klägerin, eine ausschließlich in Berlin lebende und versicherungspflichtig beschäftigte polnische Staatsangehörige, beantragte bei der Familienkasse Berlin-Brandenburg Kindergeld für ihre 1991 geborene Tochter, die bei ihrem Vater, dem geschiedenen Ehemann, in Polen lebt und dort studiert.
Die Familienkasse Berlin-Brandenburg lehnte den Antrag mit der Begründung ab, das Kindergeld stehe dem Vater zu. Der dagegen eingelegte Einspruch wurde nicht von der Familienkasse Berlin-Brandenburg, sondern von der Familienkasse Sachsen zurückgewiesen, die bundesweit zuständig ist, wenn ein Anspruchsberechtigter oder ein Kind ihren Wohnsitz in Polen hat.
Die Klägerin erhob Klage gegen die Familienkasse Sachsen, zunächst mit dem Antrag, diese zu verpflichten, Kindergeld für die Tochter ab Oktober 2013 zu gewähren. Nach einem rechtlichen Hinweis des FG-Berichterstatters beantragte die Klägerin stattdessen die Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Das FG (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.4.2015, 3 K 3006/15, Haufe-Index 8131795, EFG 2015, 1412) gab der Klage statt.
Der Ablehnungsbescheid regele lediglich, dass die Klägerin gegen die Familienkasse Berlin-Brandenburg keinen Anspruch auf Kindergeld habe; über Ansprüche gegen andere Kindergeldkassen treffe der Bescheid keine Aussage. Die Einspruchsentscheidung bestätige lediglich diese Ausgangsentscheidung. Die Klägerin müsse bei der Familienkasse Sachsen einen neuen Kindergeldantrag stellen.
Insoweit gehe aber von der Einspruchsentscheidung der Rechtsschein aus, dass kein Kindergeldanspruch gegen die Familienkasse Sachsen bestehe. Die Einspruchsentscheidung sei wegen sachlicher – nicht örtlicher – Unzuständigkeit der Familienkasse Sachsen rechtswidrig, da diese den Ausgangsbescheid nicht erlassen habe.
Entscheidung
Die Revision führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichteten Klage.
Hinweis
1. Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich gemäß § 16 AO grundsätzlich nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 FVG führt das Bundeszentralamt für Steuern den Familienleistungsausgleich nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG durch. Dazu stellt die Bundesagentur ihre Dienststellen als Familienkasse zur Verfügung. Diese sind sachlich zuständig, soweit nicht gemäß § 72 EStG eine Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts usw. als Familienkasse das Kindergeld an Angehörige des öffentlichen Dienstes festzusetzen und zu zahlen hat.
2. Die Bundesagentur für Arbeit hat aufgrund der Konzentrationsermächtigung des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 FVG innerhalb ihres "Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte ... Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen", indem bestimmte Fälle – z.B. mit Auslandsberührung – bestimmten Familienkassen zugewiesen wurden, z.B. der Familienkasse Sachsen für Fälle, in denen ein "Anspruchsberechtigter oder anderer Elternteil bzw. ein anspruchsbegründendes Kind ... ihren Wohnsitz ... in Polen" haben. Dabei handelt es sich mithin um eine besondere örtliche Zuständigkeit.
3. Der Bescheid einer örtlich unzuständigen Behörde ist wegen des Zuständigkeitsfehlers nicht nichtig (§ 125 Abs. 3 Nr. 1 AO), sondern (nur) rechtswidrig. War kein Ermessen auszuüben, weil es sich (wie bei der Entscheidung über die Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 EStG) um einen gebundenen Verwaltungsakt handelt, bleibt der Zuständigkeitsverstoß ohne Folgen, wenn keine anderen Rechtsfehler vorliegen (§ 127 AO).
4. Über den Einspruch hat die Finanzbehörde zu entscheiden, die ihn erlassen hat, soweit nicht nachträglich eine andere Behörde zuständig geworden ist. Nach dem Wortlaut des § 367 Abs. 1 Satz 1 AO müsste daher die örtlich unzuständige Behörde auch den Einspruch bescheiden. Im Einspruchsverfahren ist die Sache indessen gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO nochmals im vollen Umfang zu prüfen, und zwar auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit.
Die örtlich unzuständige Behörde kann dann dem Einspruch abhelfen, den Ablehnungsbescheid aufheben und den...