Prof. Dr. Bernd Heuermann
Leitsatz
1. Umfasst ein Vorläufigkeitsvermerk ungewisse Tatsachen, sind die Bescheide nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO zu ändern, sobald die Ungewissheit beseitigt ist. Dabei können auch für andere Veranlagungszeiträume geklärte Tatsachen erstmalig oder erneut (un)gewiss werden.
2. Nach § 165 Abs. 2 AO verwertbare Tatsachen müssen nicht neu sein, sondern (un)gewiss.
3. Änderungen nach § 165 Abs. 2 AO sind nach Art und Umfang nur in dem durch die Vorläufigkeit wirksam gesteckten Rahmen zulässig.
Normenkette
§ 165 Abs. 1 Satz 1, Satz 3, Abs. 2 Satz 1, Satz 2, § 177, § 171 Abs. 8, § 173, § 181 Abs. 1 Satz 1, § 351 Abs. 1 AO, § 2 Abs. 7 Sätze 1 und 2, § 21 EStG,
Sachverhalt
Im Streitfall waren dem Immobilienfonds K mehrere Beteiligte beigetreten, indem sie Anteile erwarben. FA und Fonds stritten sich über die Aufteilung der Sonder-AfA als Sonderwerbungskosten der jeweilig Beteiligten. Man hatte sich auf den AfA-Satz teilweise verständigt, aber im Feststellungsbescheid, der im Hinblick auf ein Musterverfahren (Aufteilung von Anschaffungskosten) vorläufig erging, nicht umgesetzt. Das Musterverfahren wurde abgeschlossen, und nun änderte das FA den Feststellungsbescheid im Hinblick auf die Bemessungsgrundlage für die Sonder-AfA und auf den AfA-Satz. Dagegen machte der Fonds K geltend, der Vorläufigkeitsvermerk decke diese Änderung nicht; denn es stünde eine rechtliche Bewertung im Raum und nicht Tatsachen. Das FG wies die Klage des Fonds ab (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.12.2010, 10 K 10283/08, Haufe-Index 2643873, EFG 2011, 1122).
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf und verwies die Sache zurück. Zwar verstoße der Vorläufigkeitsvermerk nicht gegen das Begründungsverbot und ist, weil er vor allen Dingen Tatsachen umfasst, wirksam. Deshalb musste das FA wegen Eintretens der Gewissheit ändern. Es durfte aber nicht ohne Weiteres auch die AfA-Beträge ändern.
Hinweis
Diese Entscheidung beruht auf einem überaus komplexen Sachverhalt, an dem mehrere Immobilienfonds beteiligt waren. Einzelheiten sollen hier aber keine Rolle spielen. Der Immobilienfonds K ist einer von mehreren geschossenen Fonds, die Vermietungsobjekte unter Inanspruchnahme von Förder-AfA fertigstellen und vermieten. Am Fonds beteiligt sind Anleger, die z.T. erst später dem Fonds beitreten und/oder Anteil erwerben.
1. Der Fonds K ermittelte die Einkünfte aus Vermietung wie eine gewerbliche Gewinnermittlung durch einen Vermögensstatus. Streitig war die Aufteilung von Anschaffungskosten auf Gebäude und Grund und Boden hinsichtlich der aufgrund der Anteilserwerbe erklärten Sonderwerbungskosten. Diesbezüglich erging der Feststellungsbescheid vorläufig im Hinblick auf ein Musterverfahren eines Parallelfonds.
2. Wenn das Musterverfahren beendet ist, fragt es sich, ob aufgrund von § 165 Abs. 2 AO geändert werden kann oder muss: Nach § 165 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO kann das FA eine Feststellung aufheben oder ändern, soweit es die Besteuerungsgrundlagen vorläufig festgestellt hat. Dies kann gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO geschehen, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für deren Entstehung eingetreten sind. Dabei können auch für andere Veranlagungszeiträume geklärte Tatsachen – erstmalig oder erneut – ungewiss werden. Umfang und Grund der Vorläufigkeit sind anzugeben (§ 165 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO). Die (materielle) Bestandskraft des Steuerbescheids bleibt in diesem Umfang (zunächst) offen. Dagegen ist eine vorläufige Feststellung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären, wenn die Ungewissheit beseitigt ist. Wie die Ungewissheit in § 165 Abs. 1 Satz 1 AO, so muss sich dabei auch die Gewissheit, die gewonnen wird, auf Tatsachen beziehen, die den gesetzlichen Steuertatbestand verwirklichen. Anders als in § 173 AO müssen nach § 165 Abs. 2 AO verwertbare Tatsachen nicht neu sein, sondern (un)gewiss.
3. Bezieht sich die tatsächliche Ungewissheit ausschließlich auf eine Vorrangfrage und stellt das FA im Hinblick hierauf die Prüfung aller nachrangigen und von der Beantwortung der Vorrangfrage rechtlich abhängigen Folgefragen zurück, kann die Änderung des vorläufigen Steuerbescheids insoweit nicht auf Satz 2 des § 165 Abs. 2 AO gestützt werden, sondern allein auf Satz 1 der vorbezeichneten Vorschrift. Dies führt zu einer kumulativen Anwendung der Sätze 1 und 2 des § 165 Abs. 2 AO bei Erlass des endgültigen Bescheids.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 20.11.2012 – IX R 7/11