Dr. Birger Brandt, Prof. Jürgen Brandt
Leitsatz
Hat das FA aufgrund eines Rechtsbehelfs einen Steuerbescheid unter Anwendung einer dem Steuerpflichtigen günstigeren Schätzungsmethode geändert und führt diese Schätzungsmethode in anderen Veranlagungszeiträumen zu einer höheren Steuer, können die für letztere Zeiträume ergangenen bestandskräftigen Bescheide nicht auf der Rechtsgrundlage des § 174 Abs. 4 AO mit der Begründung geändert werden, sie seien aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ergangen.
Normenkette
§ 174 Abs. 4 AO
Sachverhalt
Nach einer Außen- bzw. Steuerfahndungsprüfung, in der aufgrund einer Gesamtgeldverkehrsrechnung ein Fehlbetrag von 80000 DM festgestellt worden war, ergingen gegen einen Textileinzelhändler für mehrere Streitjahre geänderte Gewinnfeststellungs-, Umsatzsteuer- sowie Gewerbesteuermessbescheide.
Das dagegen angerufene FG entschied auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens, das neben einem Gesamtvermögensvergleich auch eine Nachkalkulation (eine Schätzung nach dem inneren Betriebsvergleich) enthielt. Damit wollte der Gutachter mögliche Fehlerquellen ausschließen und der Wirklichkeit möglichst nahe kommen. In einem Ergänzungsgutachten führte er wegen festgestellter Buchführungsmängel eine Aufschlagsrechnung durch und ermittelte erhebliche Fehlbeträge.
Daraufhin wies das FG in jenem Verfahren die Klage wegen der Gewerbesteuermessbeträge für zwei Jahre als unzulässig ab. Im Übrigen sah das FG die Klage hinsichtlich der gesonderten Feststellungen der Einkünfte aus Gewerbebetrieb, der Umsatzsteuer und des Gewerbesteuermessbetrags zum Teil als begründet an. Das Gericht schloss sich der Schätzungsmethode des Prüfers an (innerer Betriebsvergleich, Nachkalkulation). Da sich aus den Berechnungen des Prüfers höhere Gewinne aus Gewerbebetrieb ergaben, als das FA in den angefochtenen Bescheiden angesetzt hatte, wies es die Klage im Übrigen (d.h. soweit es sie nicht als unzulässig angesehen hatte) als unbegründet ab.
Im Anschluss daran erließ das FA unter Bezugnahme auf § 174 Abs. 4 AO geänderte Gewinnfeststellungsbescheide für die Streitjahre. Dabei erhöhte es die Gewinne auf der Grundlage der Hinzuschätzungen nach Maßgabe der Gutachten des Sachverständigen und änderte die Gewerbesteuermessbescheide sowie die Umsatzsteuerbescheide entsprechend. Das angerufene FG hob die Bescheide auf. Die Revision des FA hatte keinen Erfolg.
Entscheidung
§ 174 Abs. 4 AO lässt eine Änderung derjenigen Bescheide, die durch das frühere Urteil nicht aufgehoben worden sind, schon tatbestandsmäßig nicht zu. Unabhängig hiervon sei – so der BFH – mit der Wahl einer bestimmten Schätzungsmethode und deren Änderung kein bestimmter "Sachverhalt" irrig beurteilt worden.
Hinweis
Der im Streitfall für die angefochtenen Änderungsbescheide in Bezug genommene § 174 Abs. 4 AO setzt die irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts in einem Steuerbescheid voraus, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch FA oder FG zugunsten des Pflichtigen aufgehoben oder geändert wird. Sie ermöglicht dem FA, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgen zu ziehen.
Ein bestimmter Sachverhalt kann auch im Rahmen einer Schätzungsveranlagung berücksichtigt sein, sofern er in die Schätzungsgrundlagen einbezogen worden ist (von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 174 Rz. 20). Die Wahl einer Schätzungsmethode allein führt noch nicht einen solchen bestimmten Sachverhalt in die Schätzungsveranlagung ein. Denn "Sachverhalt" als Gegenstand der irrigen Beurteilung in § 174 Abs. 4 Satz 1 AO kann nur ein Zustand, ein Vorgang, eine Beziehung bzw. eine Eigenschaft materieller oder immaterieller Art sein, an die das Gesetz steuerrechtliche Folgen knüpft (BFH, Urteil vom 18.2.1997, VIII R 54/95, BStBl II 1997, 647).
Darunter fällt eine Schätzung nicht. Sie betrifft lediglich eine – ggf. wertende – Schlussfolgerung und Subsumtion. Sie stellt sich infolgedessen nur als rechtliche Folgerung aus einem mehr oder weniger unvollständig aufgeklärten bzw. aufklärbaren Sachverhalt dar (BFH, Urteil vom 14.1.1998, II R 9/97, BStBl II 1998, 371).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.2.2002, X R 59/98