Leitsatz
1. Entstehen dem Kindergeldberechtigten für sein behindertes, volljähriges Kind, das überwiegend auf Kosten des Sozialleistungsträgers vollstationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist, Aufwendungen mindestens in Höhe des Kindergelds, ist das Ermessen der Familienkasse, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, eingeschränkt; ermessensgerecht ist allein die Auszahlung des vollen Kindergelds an den Kindergeldberechtigten (Fortführung des Senatsurteils vom 23.02.2006, III R 65/04, BFH/NV 2006, 1575, BFH/PR 2006, 356).
2. Bei der Prüfung, ob Aufwendungen in Höhe des Kindergelds entstanden sind, dürfen keine fiktiven Kosten für die Betreuung des Kinds, sondern nur tatsächlich entstandene Aufwendungen für das Kind berücksichtigt werden.
Normenkette
§ 74 Abs. 1 S. 1 und 4 EStG, § 102 FGO
Sachverhalt
Das Sozialamt trägt die Kosten der vollstationären Unterbringung der Tochter der beigeladenen Mutter und begehrt die Auszahlung des Kindergelds an sich. Die Familienkasse hat dies abgelehnt.
Das FG hat die Klage abgewiesen, weil die Mutter Aufwendungen in Höhe des Kindergelds getragen habe, u.a. durch Betreuungsleistungen während des gemeinsamen Urlaubs (FG Berlin, Urteil vom 15.09.2006, 10 K 10352/05, Haufe-Index 1799407).
Entscheidung
Der BFH hat dem FG widersprochen: Da die Betreuungsleistungen der Mutter nicht anzusetzen sind und das FG die Höhe der für die Ermessensentscheidung über die Abzweigung richtigerweise zu berücksichtigenden Aufwendungen nicht festgestellt hat, wurde zurückverwiesen.
Hinweis
1. Das nach § 66 Abs. 1 EStG festgesetzte Kindergeld kann nach § 74 Abs. 1 S. 1 und 4 EStG an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt (z.B. den Sozialhilfeträger), wenn der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt oder mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist (§ 74 Abs. 1 S. 3 EStG).
2. Die Eltern sind ihren behinderten, volljährigen Kindern gegenüber nach den §§ 1601 ff. BGB zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, wenn diese sich nicht selbst unterhalten können. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf und damit auch den krankheits- und behinderungsbedingten Mehrbedarf, z.B. die Kosten einer vollstationären Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung. Die sozialrechtliche Eingliederungshilfe mindert die Bedürftigkeit nicht, da sie subsidiär ist und den Unterhaltspflichtigen nicht befreien soll. Der Unterhaltsanspruch des Kinds geht grundsätzlich auf den Sozialleistungsträger über. Kommen die Eltern also nicht für die gesamten laufenden Kosten der vollstationären Unterbringung auf – sie zahlen meist nur einen monatlichen Kostenbeitrag von 26/46 EUR (§ 94 Abs. 2 S. 1 SGB XII) –, so verletzen sie ihre Unterhaltspflicht. Auf die Gründe kommt es nicht an.
3. Die Entscheidung über die Abzweigung des Kindergelds an eine andere Person oder Stelle ist eine Ermessensentscheidung. Das Ermessen der Familienkasse reduziert sich auf null, wenn den Eltern Aufwendungen mindestens in Höhe des Kindergelds entstehen; eine Abzweigung kommt dann nicht in Betracht. Ist also z.B. das Sozialamt mit monatlich 3 000 EUR belastet, während die Eltern lediglich 170 EUR tragen, verbleibt ihnen das gesamte Kindergeld. Liegen die Aufwendungen der Eltern darunter, ohne aber unerheblich zu sein, kommt z.B. eine hälftige Abzweigung in Betracht (BFH, Urteil vom 23.02.2006, III R 65/04, BFH/NV 2006, 1575, BFH/PR 2006, 356). Dieses auf den ersten Blick erstaunliche Ergebnis rechtfertigt sich durch den Zweck des Kindergelds, die finanziellen Belastungen der Eltern auszugleichen, und durch § 74 Abs. 1 S. 3 EStG, wonach abgezweigt werden kann, wenn der Unterhaltspflichtige weniger Unterhalt zu leisten braucht, als das Kindergeld.
4. Als Unterhaltsleistungen der Kindergeldberechtigten sind nur tatsächlich angefallene Aufwendungen zu berücksichtigen (insbesondere für Geld- und Sachzuwendungen), nicht aber fiktive Kosten wie ein "Arbeitslohn" für die Betreuung des behinderten Kinds, der nach DA-FamEStG 63.3.6.3.2 Abs. 3 mit 8 EUR je Stunde anzusetzen sein soll. Unerheblich ist dabei, dass das Zivilrecht den Betreuungsunterhalt als gleichwertig ansieht.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 09.02.2009, III R 37/07