Dipl.-Finanzwirt Helmut Bur
Leitsatz
Erlässt das Finanzamt in einem Massenrechtsbehelfsverfahren einen geänderten Bescheid, mit dem der angefochtene Einkommensteuerbescheid wegen beim BVerfG oder beim BFH anhängiger Musterverfahren für vorläufig erklärt wird, ist eine Änderung des geänderten Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auch dann noch möglich, wenn dem Finanzamt die neuen Tatsachen zum Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheids bereits bekannt waren.
Sachverhalt
Das Finanzamt erließ am 21.2.2007 einen erstmaligen Einkommensteuerbescheid für 2005. Dagegen legte die Steuerpflichtige am 14.3.2007 Einspruch ein. Sie beantragte, einen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gemäß § 24 b Abs. 3 EStG sowie die Übertragung des Hinterbliebenenpauschbetrages gemäß § 33 b Abs. 4 EStG zu berücksichtigen. Darüber hinaus bat sie um Ruhen des Verfahrens hinsichtlich zwei weiterer Punkte aufgrund anhängiger Musterverfahren beim BFH bzw. beim BVerfG: Am 12.4.2007 erließ das Finanzamt einen Änderungsbescheid, in dem der beantragte Entlastungsbetrag für Alleinerziehende sowie der Hinterbliebenenpauschbetrag berücksichtigt wurden; auch wurde dem Antrag auf Ruhen des Verfahrens entsprochen. Mit Bescheid vom 23.11.2009 nahm das Finanzamt zusätzliche Vorläufigkeitsvermerke in den Einkommensteuerbescheid 2005 auf. Im Übrigen blieb dieser - auch betragsmäßig - unverändert. Am 26.2.2010 erließ das Finanzamt einen geänderten Einkommensteuerbescheid 2005, in dem eine Prüfungsmitteilung vom 6.3.2008, resultierend aus einer beim Arbeitgeber der Steuerpflichtigen durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung, ausgewertet wurde; angesetzt wurde ein geldwerter Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an die Steuerpflichtige. Gegen den geänderten Bescheid legte die Steuerpflichtige Einspruch ein. Sie führte aus, zum Zeitpunkt der Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 am 23.11.2009 seien die Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung dem Finanzamt bereits bekannt und somit bei der erneuten Änderung am 26.2.2010 nicht mehr neu gewesen. Eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen neuer Tatsachen scheide daher aus.
Entscheidung
Nach Auffassung des FG hat das Finanzamt zu Recht im Bescheid vom 26.2.2010 die Ergebnisse der Prüfungsmitteilung vom 6.3.2008 berücksichtigt. Eine Änderung der Steuerfestsetzung konnte gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 AO erfolgen. Das FG führt aus, dass zwar auch ein Änderungsbescheid ein Verwaltungsakt sei, bei dessen Erlass das Finanzamt alle ihm bekannten Tatsachen berücksichtigen muss, die zu einer höheren Steuer führen und verfahrensrechtlich in die geänderte Festsetzung einbezogen werden können. Diese Beurteilung soll jedoch nach der Rechtsprechung des BFH nicht gelten, wenn die Finanzbehörde einen Steuerbescheid allein nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO im Hinblick auf einen nachträglich ergangenen Grundlagenbescheid geändert und hierbei Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat, die darüber hinaus eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtfertigten. Dies beruhe darauf, dass das Finanzamt den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss und ihm nicht zugemutet werden kann, bei jeder Folgeänderung zu überprüfen, ob neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die eine weitergehende Änderung rechtfertigen. Gleiches gilt nach Auffassung des FG, wenn das Finanzamt in einem Massenrechtsbehelfsverfahren einen geänderten Bescheid erlässt, mit dem der angefochtene Einkommensteuerbescheid wegen beim Bundesverfassungsgericht oder beim Bundesfinanzhof anhängiger Musterverfahren für vorläufig erklärt wird.
Hinweis
Im Einspruchsverfahren besteht gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO grundsätzlich die Pflicht des Finanzamts, die Sache in vollem Umfang erneut zu überprüfen. Die voll umfängliche Prüfung findet ihre Grenze allerdings in den Umständen des Einzelfalles. Deshalb begrenzt ein vom Steuerpflichtigen konkret gestellter Antrag die Aufklärungspflichten des Finanzamts. Insbesondere in den Fällen des sog. Masseneinspruchs, wie er vielfach auch von zahlreichen anderen Steuerpflichtigen eingelegt wird, sind die Ermittlungspflichten des Finanzamts auf den Antrag begrenzt (vgl. hierzu FG München, Urteil v. 26.9.2006, 13 K 4282/02, EFG 2007 S. 237, rkr.).
Zur Fortbildung des Rechts hat das FG Baden-Württemberg im Urteilsfall die Revision zugelassen. Das Revisionsverfahren wird beim BFH unter dem Az VI R 22/13 geführt.
Link zur Entscheidung
FG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.03.2013, 8 K 518/11