Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot begründet im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO kein allgemeines "Änderungsverbot". Es besagt lediglich, dass eine Schlechterstellung des Klägers bezogen auf die mit der Klage angegriffene Steuerfestsetzung durch das FG verboten ist.
2. Einer erneuten Änderung eines zuvor bereits durch Gerichtsentscheidung geänderten Steuerbescheids stehen Sinn und Zweck des § 174 Abs. 4 AO sowie Rechtskraftgründe jedoch entgegen, wenn es sich um denselben Streitgegenstand handelt.
Normenkette
§ 110 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AO
Sachverhalt
K erzielte seit 1997 als GmbH-Geschäftsführer Lohneinkünfte, die der Sozialversicherungsträger allerdings nachträglich als pflichtversicherungsfreie Beschäftigung beurteilt und daher im Jahr 2002 die Beiträge zurückgezahlt hatte. Das FA erfasste darauf die gezahlten Arbeitgeberanteile als steuerbaren Arbeitslohn der jeweiligen Lohnzahlungszeiträume und änderte die ESt-Bescheide für 1997 bis 2003 entsprechend. Die dagegen erhobene Klage war erfolgreich. Die irrig geleisteten Arbeitgeberanteile seien, so das FG mit Urteil vom 13.9.2007, zwar Arbeitslohn, aber erst 2002 zugeflossen. Aber die Besteuerungsgrundlagen im VZ 2002 seien nicht zu erhöhen, denn das verbiete das Verböserungsverbot. Darauf erging der hier streitige ESt-Bescheid 2002: Das FA änderte ihn nach § 174 Abs. 4 AO und erhöhte Ks Lohneinkünfte entsprechend. Das FG gab der Klage dagegen statt (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10.11.2010, 1 K 1914/08, Haufe-Index 2597621, EFG 2011, 689). Denn das FA habe die ESt-Festsetzung für 2002 nicht erneut ändern dürfen. § 174 Abs. 4 AO erlaube der Finanzbehörde nicht, aus einer Gerichtsentscheidung Folgerungen zulasten des Steuerpflichtigen zu ziehen, die das FG aus Gründen des Verböserungsverbotes nicht habe ziehen dürfen.
Entscheidung
Der BFH hob aus den unter den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen die Vorentscheidung auf, bejahte die Änderungsbefugnis des FA und wies daher die Klage ab.
Hinweis
Unstreitig waren die 2002 zurückgezahlten Sozialversicherungsbeiträge Arbeitslohn i.S.d. § 19 EStG. Die Frage war nur, ob § 174 Abs. 4 AO, die Rechtskraft des ersten FG-Urteils vom 13.9.2007 oder das finanzgerichtliche Verböserungsverbot einer entsprechenden Änderung der bestandskräftigen Veranlagung zulasten des Steuerpflichtigen entgegenstanden.
1. Grundsätzlich lagen hier die Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO vor; denn danach können aus einem Sachverhalt nachträglich durch Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wenn aufgrund irriger Beurteilung ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs zugunsten des Steuerpflichtigen – auch durch ein Gericht (§ 174 Abs. 4 Satz 2 AO) – aufgehoben wird. Die Norm wird dahin verstanden, dass sie der materiellen Richtigkeit Vorrang gegenüber der Bestandskraft und widersprüchlichen Bescheiden (vgl. amtliche Überschrift der Norm!) einräumt (BFH, Urteil vom 28.1.2009, X R 27/07, BFH/NV 2009, 630, BFH/PR 2009, 194).
2. Der Tatbestand erfordert also eine weitere Berücksichtigung desselben Sachverhalts bei einem anderen Steuerpflichtigen oder bei einer anderen Steuerart oder in einem anderen Veranlagungszeitraum. Dagegen darf danach ein und derselbe bereits durch eine Gerichtsentscheidung modifizierte Steuerbescheid zuungunsten des Steuerpflichtigen nicht mehr geändert werden; diese Konstellation lag hier aber nicht vor. Denn das FG hat mit dem insoweit klageabweisenden Urteil vom 13.9.2007 den ESt-Bescheid 2002 nicht geändert. Erst das FA hat danach einen geänderten ESt-Bescheid 2002 erlassen und damit gegenüber den ESt-Festsetzungen 1997 bis 2001 in einem "anderen" Bescheid die zutreffenden steuerlichen Folgen aus dem diese Bescheide ändernden FG-Urteil vom 13.9.2007 gezogen.
3.Das finanzgerichtliche Verböserungsverbot verwehrt dem FG nur, den Steuerpflichtigen im Vergleich zu der mit Klage angegriffenen Steuerfestsetzung schlechter zu stellen. Deshalb war zwar das FG im Urteil vom 13.9.2007 gehindert, die streitige Änderung des Einkommensteuerbescheids 2002 selbst vorzunehmen. Ein allgemeines, auch auf das FA erstrecktes Änderungsverbot im Hinblick auf § 174 Abs. 4 AO begründet das finanzgerichtliche Verböserungsverbot jedoch nicht. Und auch die Rechtskraft des Urteils stand einer Änderung nicht entgegen. Denn die Rechtskraft ist auf den Teil des Streitgegenstands begrenzt, über den jeweils entschieden ist. Weil aber die Sozialversicherungsbeiträge der Jahre 1997 bis 2001 nicht Streitgegenstand des Klageverfahrens gegen den ESt-Bescheid 2002 waren, verletzt der streitige Änderungsbescheid insbesondere nicht die Entscheidungskompetenz des FG im Vorprozess. Soweit das Gericht in einem Sachurteil einerseits nicht zugunsten des Klägers über dessen Klagebegehren hinausgehen (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), andererseits den Steuerbescheid nicht zum Nachteil des Klägers ändern darf, wird über den Streitgegenst...