Leitsatz
Zeichnet sich während eines Kalenderjahres ab, dass die Einkünfte oder Bezüge eines Kindes den Jahresgrenzbetrag gem. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG voraussichtlich überschreiten werden, so ist die Familienkasse berechtigt, die Festsetzung des Kindesgeldes rückwirkend mit Wirkung zu Beginn des Kalenderjahres aufzuheben.
Normenkette
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO , § 175 Abs. 2 AO , § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG , § 70, § 71 EStG
Sachverhalt
Der Kläger ist der Vater eines 1972 geborenen Sohnes. Dieser beendete am 30.1.1997 sein Studium. Zum 31.3.1997 wurde er exmatrikuliert. Bis dahin hatte der Sohn keine Einkünfte und Bezüge. Am 1.4.1997 nahm er den juristischen Vorbereitungsdienst auf. Ab April 1997 erhielt er Anwärterbezüge von monatlich 1 935 DM.
Die Familienkasse änderte mit Bescheid vom 26.6.1997 die Festsetzung des Kindergeldes dahin gehend, dass das Kindergeld ab Januar 1997 auf 0 DM festgesetzt wurde. Zugleich wurde das bis April 1997 gezahlte Kindergeld in Höhe von 880 DM zurückgefordert. Zur Begründung führte die Familienkasse an, die Einkünfte des Sohnes im Jahr 1997 überschritten den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) von 12 000 DM, so dass der Sohn für das Kindergeld nicht berücksichtigt werden könne. Das FG wies die Klage ab.
Entscheidung
Die Revision des Klägers blieb erfolglos.
Zur Begründung führte der BFH an, der Sohn habe sich während des gesamten Jahres 1997 in Ausbildung befunden. Demnach sei der Jahresgrenzbetrag in Höhe von 12 000 DM maßgebend, der allerdings überschritten worden sei.
Die Familienkasse sei verfahrensrechtlich auch nicht gehindert, die Kindergeld-Festsetzung rückwirkend zum 1.1.1997 aufzuheben, nachdem sich das Überschreiten des Jahresgrenzbetrags abgezeichnet habe.
Obgleich der Sohn in den ersten drei Monaten keine Einkünfte und Bezüge gehabt habe, erstrecke sich die Aufhebung der Kindergeld-Festsetzung auf das gesamte Jahr 1997. Eine Zwölftelung des Jahresgrenzbetrags sei nicht zulässig, da sich der Gesetzgeber in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG – bei durchgehender Ausbildung – für einen Jahres- und nicht für einen Monatsgrenzbetrag entschieden habe.
Hinweis
Die beiden Entscheidungen VI R 83/98 und VI R 55/00 (BFH-PR 2002, 47 und 48) gehören zusammen. Die beiden Sachverhalte unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass sich im ersten Fall schon während des Jahres das Überschreiten des Jahresgrenzbetrags abzeichnete, während dies in der Entscheidung VI R 55/00 – wie üblich – erst nach Ablauf des Jahres festgestellt werden konnte.
Das Problem: Einerseits kann die Frage, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten, regelmäßig erst nach Ablauf des Jahres abschließend geprüft werden. In Extremfällen kann der Jahresgrenzbetrag sogar durch eine Einnahme noch am letzten Tag eines Jahres überschritten werden.
Andererseits ist die Familienkasse aber gehalten, das Kindergeld monatlich auszuzahlen (§ 71 EStG – Monatsprinzip).
Aufgrund dieser besonderen gesetzlichen Konzeption hätte es nahe gelegen, die Prognoseentscheidung über das (monatlich auszuzahlende) Kindergeld wie eine Vorauszahlung generell unter den Vorbehalt der Nachprüfung (vgl. § 164 Abs. 1 Satz 2 AO) zu stellen.
Der genannten gesetzlichen Konzeption einer auf den Jahresgrenzbetrag bezogenen Prognoseentscheidung einerseits und einer monatlichen Kindergeldzahlung andererseits hat der BFH verfahrensrechtlich Rechnung getragen. Er hält dafür, dass die Familienkasse berechtigt sein muss, die monatlich zu zahlenden "vorläufigen" Kindergeld-Leistungen wieder zurückzufordern, wenn der Jahresgrenzbetrag überschritten wird.
Allerdings passen die für eine Aufhebung der Kindergeld-Festsetzungen zur Verfügung stehenden Vorschriften im Fall des Überschreitens des Jahresgrenzbetrags allesamt nicht vollständig. Einerseits ergreift die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (rückwirkendes Ereignis) die ursprüngliche Kindergeld-Festsetzung, die mitunter schon Jahre zurückliegen und auch unproblematische Jahre betreffen kann. Andererseits ist zweifelhaft, ob ein Überschreiten des Jahresgrenzbetrags als eine "Änderung der Verhältnisse" i.S.d. § 70 Abs. 2 EStG angesehen werden kann.
Ohne auf die Frage einzugehen, ob § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO allein (ggf. in Verbindung mit § 175 Abs. 2 AO) oder § 70 Abs. 2 EStG die zutreffendere Vorschrift darstellt, hat der BFH jedenfalls aus der "Vorläufigkeit" der während eines Jahres geleisteten Kindergeldzahlungen geschlossen, dass eine Aufhebung des Kindergeldbescheids möglich sein muss.
Aus alledem ergibt sich aus den genannten Entscheidungen, dass der Vertrauensschutz eines Kindergeldberechtigten im Fall des Überschreitens des Jahresgrenzbetrags gering ist. Dies gilt selbst dann, wenn das Kindergeld endgültig festgesetzt war (vgl. Urteil VI R 122/99 – zur vorläufigen Festsetzung des Kindergeldes nach § 165 Abs. 1 AO,BFH-PR 2002, 46). Dieses Ergebnis entspricht indessen der gesetzlichen Konzeption.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.7.2001,...