Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
1. Der Nachweis einer Behinderung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG muss nicht entsprechend der in DA-FamEStG 63.3.6.2 Abs. 1 (BStBl I 1996, 723, 746) getroffenen Regelung, sondern kann auch auf andere Weise erbracht werden.
2. Auch Suchtkrankheiten können Behinderungen darstellen.
3. Allein der Umstand, dass sich ein Kind wegen Drogenabhängigkeit in einem Polamidon-Substitutionsprogramm befunden hat, lässt nicht den Schluss zu, dass das Kind behindert und wegen der Behinderung außer Stande war, sich selbst zu unterhalten.
4. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" erlauben keine ausreichenden Feststellungen zu Beginn, Grad und Folgen einer Behinderung wegen Drogenabhängigkeit.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
Sachverhalt
Der Sohn des Klägers war seit mehreren Jahren drogenabhängig, hatte keine eigenen Einkünfte und Bezüge und wurde vom Kläger mit Sachleistungen unterstützt. Da er weder beim Kläger noch bei dessen geschiedener Ehefrau lebte, hatte das Amtsgericht den Kläger zum Kindergeldberechtigten bestimmt.
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen war ersichtlich, dass der Sohn wegen einer Methadon-Substitution mit Polamidon in ärztlicher Behandlung war. Der Beklagte lehnte den Kindergeldantrag mit der Begründung ab, der Nachweis der Behinderung des Sohns müsse grundsätzlich durch Feststellungsbescheid des Versorgungsamts geführt werden.
Das FG gab der Klage mit dem Hinweis statt, dass wegen der Teilnahme des Sohns an einem Methadon-Programm vor Vollendung des 27. Lebensjahrs und dessen Drogenabhängigkeit im Weg eines Anscheinsbeweises von einer mindestens 50%igen Behinderung und davon auszugehen sei, dass der Sohn sich nicht selbst unterhalten könne.
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil des FG auf. Zwar müsse die Behinderung entgegen der Ansicht der Verwaltung nicht in einer bestimmten Form nachgewiesen werden.
Es sei aber auch nicht möglich, die Behinderung hier anhand eines Anscheinsbeweises festzustellen. Die ärztlichen Bescheinigungen, aus denen sich weder ergebe, seit wann der Sohn drogenabhängig sei, welche Drogen er seit wann und in welchem Umfang konsumiert habe und welches Ausmaß und welche Folgen die Drogenabhängigkeit in psychischer, physischer, beruflicher und sozialer Hinsicht für ihn hatte, böten keine hinreichende Grundlage für eine solche Beweisführung.
Dem Senat sei kein Erfahrungssatz bekannt, dass Drogenabhängigkeit zwangsläufig und unvermeidbar zu einer Behinderung führe und dass wegen Drogenabhängigkeit Behinderte außer Stande seien, sich selbst zu unterhalten.
Hinweis
Kindergeld wird u.a. auch für ein behindertes Kind bezahlt, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Eine Behinderung in diesem Sinn kann auch bei Suchtkrankheiten vorliegen. In diesen Fällen ist allerdings der Nachweis der Behinderung besonders schwierig. Die Verwaltung verlangt hier den Nachweis durch einen Ausweis nach dem Schwerbehindertengesetz oder durch einen behördlichen Bescheid nach Maßgabe verschiedener Gesetze.
Die Rechtsprechung ist weniger streng; sie lässt den Nachweis der Behinderung ohne Beweismittelbeschränkung zu. Die Beweismittel müssen aber nach den allgemeinen Grundsätzen den Schluss auf die Behinderung, den Grad der Behinderung und den Zeitpunkt zulassen, ab dem die Behinderung besteht. Aus dem Grad der Behinderung muss ersichtlich sein, dass das Kind nicht in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten. Da das Gericht mangels eigener medizinischer Fachkenntnisse in der Regel diese Feststellungen selbst nicht treffen kann, wird es dazu ein ärztliches Gutachten einholen oder die behandelnden Ärzte vernehmen müssen. Erfahrungssätze wird man hier bei der Beweiswürdigung nur in besonders schweren Fällen heranziehen können.
Das vorliegende Urteil betrifft zwar drogenabhängige Kinder; es ist aber ohne weiteres auch auf andere, z.B. alkoholabhängige Kinder anzuwenden. Mit der Ablehnung der von der Verwaltung in TZ 63.3.6.2 der DA-FamEStG vertretenen eingeschränkten Nachweismöglichkeit ist es jedoch darüber hinaus allgemein für den Nachweis einer Behinderung von Bedeutung.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 16.4.2002, VIII R 62/99