Ewald Dötsch, Prof. Dr. Franz Dötsch
Leitsatz
1. Die Anwendung des § 174 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 setzt voraus, dass "ein bestimmter Sachverhalt" in mehreren Steuerbescheiden zu ungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Hat das FA einerseits in den Veranlagungszeiträumen 1989 und 1990 von der Ambros S.A. gutgeschriebene (Schein-)Renditen beim Anleger (typisch stillen Gesellschafter) als Einnahmen aus Kapitalvermögen der Einkommensteuer unterworfen und andererseits im Streitjahr 1991 möglicherweise als Werbungskosten bei der typisch stillen Beteiligung zu berücksichtigende Verlustanteile außer Betracht gelassen, so handelt es sich dabei um verschiedene Sachverhalte und nicht um "einen bestimmten Sachverhalt" i.S.v. § 174 Abs. 1 AO 1977.
2. Die Anwendung des § 174 Abs. 3 AO 1977 setzt (u.a.) voraus, dass die Annahme der Finanzbehörde, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen, für die Nichtberücksichtigung dieses Sachverhalts im Steuerbescheid k a u s a l geworden ist. An dieser Kausalität fehlt es, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts darauf beruht, dass das FA von diesem Sachverhalt gar keine Kenntnis hatte oder annahm, dieser Sachverhalt sei – jetzt und auch später – ohne steuerliche Bedeutung.
Normenkette
§ 174 Abs. 1 und 3 AO
Sachverhalt
Der Kläger schloss 1989 mit der Ambros S.A. (A) einen Verwaltungsvertrag, aufgrund dessen er der A Kapitalbeträge i.H.v. 155 000 DM zur Verfügung stellte. Die A tätigte mit den gebündelten Beträgen der Anleger Spekulationsgeschäfte, an deren Ergebnissen die Anleger mit 70 % beteiligt waren. Die Anleger hatten die Wahl zwischen der monatlichen Wiederanlage der Renditen oder deren vierteljährlicher Auszahlung. Der Kläger wählte die Wiederanlage.
Die A erzielte aus ihren Spekulationsgeschäften hohe Verluste. Gleichwohl spiegelte sie den Anlegern stets Gewinne vor, die – ebenso wie gekündigte Kapitalbeträge – auf Anforderung bis zum 30.9.1990 prompt an die Anleger ausgezahlt wurden. Diese Auszahlungen wurden zunehmend im sog. Schneeballsystem bestritten.
Im Januar 1991 brach das "Schneeballsystem" zusammen, wobei der Kläger sein Einlagekapital einschließlich der stehen gelassenen Renditen verlor. Der Kläger erhielt auf seine Kapitaleinlagen in den Jahren 1989 und 1990 "Renditen" gutgeschrieben, die das FA als Einnahmen aus Kapitalvermögen besteuerte.
Der Kläger gab seine ESt-Erklärung 1991 (Streitjahr) 1992 ab. Negative Einkünfte aus den Ambros-Anlagen wurden darin nicht geltend gemacht. Der ESt-Bescheid 1991 wurde vom FA mehrmals geändert, zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid vom 21.5.1997. Negative Einkünfte aus den Ambros-Anlagen wurden darin nicht berücksichtigt.
Im März 1998 beantragte der Kläger, den ESt-Bescheid 1991 dahin zu ändern, dass die Ambros-Verluste einkommensteuermindernd berücksichtigt werden. Das FA lehnte dies ab. Klage und Revision des Klägers blieben erfolglos.
Entscheidung
Entgegen der vom Kläger noch im FG-Verfahren vertretenen Ansicht rechtfertige § 174 Abs. 1 AO keine Änderung des angefochtenen Bescheids. Auch § 174 Abs. 3 AO biete keine Handhabe zu der vom Kläger begehrten Korrektur. Selbst wenn man dem Kläger darin folgen würde, dass die von der OFD Düsseldorf nach Bekanntwerden der Ambros-Urteile des BFH vom 22.7.1997 vorgenommene Prüfung der Abziehbarkeit von Verlusten der Ambros-Anleger dem beklagten FA zuzurechnen sei, lägen die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO nicht vor.
Abgesehen davon, dass die OFD Düsseldorf die gebotene konkrete Beurteilung im Streitfall des Klägers gar nicht hätte vornehmen können, hätte der Kläger nicht einmal behauptet und könne dies auch nicht, dass die OFD Düsseldorf den Standpunkt vertreten habe, die Ambros-Anleger könnten in Veranlagungszeiträumen nach 1990 Verlustanteile an der A als Werbungskosten abziehen. Die OFD Düsseldorf sei in dieser Stellungnahme vielmehr zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ambros-Anleger aus mehreren, voneinander unabhängigen Gründen Verluste weder 1991 noch später einkommensteuermindernd geltend machen könnten.
Hinweis
1. In den Grundsatzurteilen vom 22.7.1997 hat der BFH die Rechtsverhältnisse der Anleger zur Ambros S.A. als typisch stille Gesellschaften i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 4. EStG eingeordnet (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 22.7.1997, VIII R 57/95, BStBl II 1997, 755). Dort hat der BFH auch darauf hingewiesen, dass die Ambros-Anleger etwaige laufende Verlustanteile – wenn überhaupt – frühestens im Jahr des Zusammenbruchs der Ambros – 1991 – geltend machen könnten.
2. Das Dilemma der Ambros-Anleger besteht nun darin, dass im Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Ambros-Urteile des BFH vom 22.7.1997 die Einkommensteuerveranlagungen 1991 in aller Regel längst bestandskräftig waren und zudem die Festsetzungsfrist (vgl. §§ 169 ff. AO)abgelaufen war. So liegt es auch im Fall des Klägers, über dessen Klage der BFH im folgenden Urteil zu entscheiden hatte. Der Kläger versuchte daher, die Bestandskraft des Einkommensteuerbeschei...