Leitsatz
* 1. Für die Zulässigkeit einer Klage bedarf es der Angabe einer ladungsfähigen Anschrift dann nicht, wenn sich der Kläger dadurch einer konkreten Gefahr der Verhaftung aussetzen würde. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Identität des Klägers feststeht und die Möglichkeit der Zustellung durch einen Prozessbevollmächtigten sichergestellt ist.
2. Der Beteiligte gilt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Frage der Prozessfähigkeit (Zulassungsstreit) als prozessfähig.
3. Liegen konkrete Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit des Beteiligten vor, muss sich das Prozessgericht – ggf. durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens – von der Prozessfähigkeit überzeugen.
* Leitsätze nicht amtlich
Normenkette
§ 58 Abs. 1 FGO , § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO
Sachverhalt
Der durch einen Prozessbevollmächtigten vertretene Kläger, gegen den ein Haftbefehl vorlag, hatte im Klageverfahren (betreffend Kindergeld für seinen Sohn) seinen Wohnort bewusst geheim gehalten. Das FG hatte die Klage als unzulässig abgewiesen. Der Kläger sei nicht hinreichend bestimmt i.S.d. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO. Auch im Fall einer Prozessvertretung sei an dem Erfordernis der Angabe der ladungsfähigen Anschrift zumindest in den Fällen festzuhalten, in denen das Gericht der Kenntnis des tatsächlichen Wohnorts eine für die weitere Prozessführung entscheidende Rolle beimesse und dieser Umstand dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben sei.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung (aus zweierlei Gründen) auf und verwies die Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück. Zum einen habe das FG zu Unrecht angenommen, der Kläger sei nicht hinreichend bestimmt i.S.d. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO. Zum anderen bestünden Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers. Da konkrete Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit des Beteiligten vorlägen, müsse sich das Prozessgericht – ggf. durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens – von der Prozessfähigkeit des Klägers überzeugen.
Hinweis
Zusätzlich zu den ausführlichen, für sich besprechenden Leitsätzen in diesem Besprechungsurteil verdienen folgende Punkte Beachtung:
1. Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO gehört u.a. die Bezeichnung des Klägers zu den Muss-Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Klage. Dies heißt, bei natürlichen Personen muss der Name, der Vorname und die Adresse des Klägers (schriftlich) mitgeteilt werden.
Wird ein Kläger durch Haftbefehl gesucht, wird er (auch) im finanzgerichtlichen Verfahren in aller Regel seine ladungsfähige Anschrift nicht offenbaren. Die Rechtsprechung hatte insoweit schon früher entschieden, dass die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift dann nicht Voraussetzung einer Klage ist, wenn der Kläger sich bei Nennung der Anschrift einer konkreten Verhaftungsgefahr aussetzen würde. Die Rechtsprechung hatte jedoch – ebenso wie in der Besprechungsentscheidung – die Einschränkung gemacht, dass die Identität des Klägers feststehen und die Möglichkeit der Zustellung durch einen Zustellungs- oder Prozessbevollmächtigten sichergestellt sein müsse.
Im Gegensatz zur Vorinstanz vertrat der BFH die Auffassung, dass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht (mit der Folge einer Minderung der Erfolgschancen der Klage) zwar dann vorliegen könne, falls der Kläger beabsichtigen sollte, nicht vor dem FG zu erscheinen. Damit verliere der Kläger jedoch nicht schlechthin sein Interesse an einer gerichtlichen Überprüfung der angegriffenen Verwaltungsentscheidung.
2. Erhebliche verfahrensrechtliche Unsicherheiten zeigen sich immer wieder in Fällen, in denen die Prozessfähigkeit eines Beteiligten (Klägers) in Rede steht. Dazu Folgendes:
a) Wegen ihrer Bedeutung als Prozessvoraussetzung (Sachentscheidungsvoraussetzung) und als Prozesshandlungsvoraussetzung ist die Prozessfähigkeit eines Beteiligten in jeder Verfahrenslage und in jedem Rechtszug von Amts wegen zu prüfen. Bei fehlender Prozessfähigkeit des Klägers ist das Gericht gehindert, zur Sache zu verhandeln und zu entscheiden. Die von einem oder für einen Prozessunfähigen erhobene Klage ist durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen.
b) Steht die Frage der Prozessfähigkeit eines Beteiligten (erst) in einem Revisionsverfahren im Raum, darf die Revision nicht als unzulässig verworfen werden. Regelmäßig ist die Sache an den Tatrichter (FG) zur erneuten Verhandlung (über die Prozessfähigkeit) zurückzuverweisen.
c) Zu beachten ist auch, dass der Zulässigkeit einer Revision eine mögliche Prozessunfähigkeit des Klägers nicht entgegensteht. Für den Streit um seine Prozessfähigkeit (sog. Zulassungsstreit) gilt der Beteiligte als prozessfähig, und zwar bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Frage der Prozessfähigkeit. Er kann daher auch Rechtsmittel gegen eine Entscheidung einlegen, mit der er – wie hier – nach seiner Auffassung zu Unrecht als prozessfähig beurteilt worden ist.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 11.12.2001, VI R 19/01