Dr. Fabian Schmitz-Herscheidt
Leitsatz
1. Ein Zuckerhersteller hat einen unionsrechtlichen Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben, wenn deren Höhe infolge einer Korrektur der Berechnungsmethode (hier: Änderung des zur Berechnung der Ergänzungsabgabe erforderlichen Koeffizienten) nachträglich reduziert wird.
2. Da der Erstattungsanspruch erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderungsverordnung geltend gemacht werden kann, beginnen nationale Antrags- und Änderungsfristen erst ab diesem Zeitpunkt zu laufen.
3. Aufgrund des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes steht die Bestandskraft des Festsetzungsbescheids der Erstattung dann nicht entgegen, wenn dies dazu führte, dass ein unionsrechtlicher Anspruch auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Produktionsabgaben, der erst nach Eintritt der Bestandskraft des Festsetzungsbescheids entstanden ist, nicht durchgesetzt werden könnte.
Normenkette
Art. 1 i.V.m. Anh., Art. 2, 3 VO (EU) Nr. 1360/2013
Sachverhalt
Das Hauptzollamt (HZA) hatte gegen die Klägerin mit Bescheid vom 25.11.2002 auf der Grundlage der VO (EG) Nr. 1837/2002 für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 eine Produktionsabgabe für A- und B-Zucker und eine Ergänzungsabgabe festgesetzt.
Aufgrund der korrigierten Festsetzung des Koeffizienten der Ergänzungsabgabe durch die VO (EU) Nr. 1360/2013 beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 15.12.2014 eine Erstattung zuzüglich Zinsen. Das HZA lehnte dies ab und verwies auf die Bestandskraft der Festsetzung. Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (FG Düsseldorf, Urteil vom 20.10.2017, 4 K 1955/16 VZr).
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung und den angefochtenen Bescheid auf. Er setzte für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 zugunsten der Klägerin zu erstattende Produktionsabgaben sowie nach § 238 AO zu berechnende Zinsen auf den Erstattungsbetrag für den Zeitraum von dessen Zahlung bis zu dessen Erstattung fest.
Hinweis
1. Für die Wirtschaftsjahre 2001/2002 bis 2005/2006 hatten Zuckerhersteller Produktionsabgaben zu zahlen. Dabei wurde zwischen A-Zucker und B-Zucker unterschieden. Die Höhe der Abgaben war von verschiedenen Rechengrößen abhängig, unter anderem war ein Koeffizient für die Berechnung der Ergänzungsabgabe zu beachten.
2. Die Produktionsabgaben und der Koeffizient der Ergänzungsabgabe im Zuckersektor für das Wirtschaftsjahr 2001/2002 wurden durch die VO (EG) Nr. 1837/2002 festgesetzt.
Der Koeffizient wurde sodann durch die VO (EU) Nr. 1360/2013 korrigiert. Im Streitfall ergab sich dadurch für die Klägerin eine rechnerisch geringere Produktionsabgabe. Sie begehrte eine Erstattung inklusive Zinsen, beantragte dies aber erst mit Schreiben vom 15.12.2014.
3. Dem vorliegenden Urteil des BFH ging eine Vorabentscheidung des EuGH voraus, wegen derer das Verfahren ausgesetzt worden war (BFH, Vorlagebeschluss vom 1.6.2022, VII R 48/20, BFH/NV 2022, 1375; Vorabentscheidung des EuGH, Urteil vom 14.12.2023, C-655/22, I [Erstattung von Abgaben], Haufe-Index 16351843, EU:C:2023:993). Der EuGH entschied in der Vorabentscheidung (C-655/22):
„1. Art. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1360/2013 [...] ist dahin auszulegen, dass er nicht verlangt, dass die Frist für die Einreichung eines auf diese Verordnung gestützten Antrags auf Erstattung von zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor gezahlten Beträgen spätestens zum Zeitpunkt der Feststellung dieser Abgaben, nämlich am 30. September 2014, endet. Es obliegt den Mitgliedstaaten, in ihrem nationalen Recht unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität die anwendbare Frist festzulegen, wobei eine Frist von einem Jahr an sich nicht unangemessen erscheint, vorausgesetzt allerdings, dass sie frühestens mit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1360/2013 zu laufen beginnt.
2. Die Verordnung Nr. 1360/2013 ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Vorschriften entgegensteht, die es den zuständigen nationalen Behörden erlauben, einen auf diese Verordnung gestützten Antrag auf Erstattung von zu Unrecht als Produktionsabgaben im Zuckersektor gezahlten Beträgen abzulehnen, indem sie sich auf die Bestandskraft der nationalen Entscheidungen berufen, mit denen die Höhe dieser Abgaben vor Erlass dieser Verordnung in Anwendung mehrerer Verordnungen der Europäischen Kommission festgesetzt wurde, die rückwirkend durch diese Verordnung ersetzt wurden.”
4. Der BFH stellte vor diesem Hintergrund folgende Leitlinien auf:
a) Der Erstattungsanspruch aufgrund einer Korrektur der Berechnungsmethode der Produktionsabgaben für Zucker ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht. Denn das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen (BFH, Urteil vom 9.7.2024, VII R 35/23, Rz. 21, BFH/NV 2024, 1310; EuGH, Urteil vom 14.12.2023, C-655/22, I [Erstattung von Abgaben], Rz. 34, Haufe-Index 16351843).
b) Der Erstattungsanspruch kann erst ab dem Zeitpunkt des...