Prof. Dr. Heinz-Jürgen Pezzer
Leitsatz
1. Der zeitlich unbefristete Antrag auf Günstigerprüfung gemäß § 32d Abs. 6 EStG kann nach der Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheids nur dann zu einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung führen, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift erfüllt sind.
2. Führt die Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG insgesamt zu einer niedrigeren Einkommensteuer, kommt eine Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur dann in Betracht, wenn den Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden der abgegolten besteuerten Kapitaleinkünfte kein grobes Verschulden trifft.
3. Weder der Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG noch die Vorlage einer Steuerbescheinigung sind ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.
Normenkette
§ 32d Abs. 6, § 43 Abs. 5 EStG, § 173, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 2 AO
Sachverhalt
Die Klägerin erzielte Kapitalerträge. Die Schuldnerin der Kapitalerträge wies in der von ihr erstellten Steuerbescheinigung Einkünfte aus Kapitalvermögen i.H.v. 1.523,72 EUR sowie einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer i.H.v. 380,93 EUR zzgl. 20,95 EUR Solidaritätszuschlag aus. In der von einem Steuerberater gefertigten Einkommensteuererklärung erklärte die Klägerin nur Einkünfte aus nicht selbstständiger Arbeit und aus einer Leibrente. Zu den Kapitaleinkünften machte sie keine Angaben. Das FA setzte die Einkommensteuer erklärungsgemäß i.H.v. 0 EUR fest.
Nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Einkommensteuerfestsetzung beantragte die Klägerin unter Vorlage der Steuerbescheinigung über die von ihr erzielten Kapitalerträge sowie die anrechenbaren Abzugsbeträge die sog. Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG. Das FA lehnte eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids und eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer auf die Einkommensteuerschuld ab. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hat das FG abgewiesen (Niedersächsisches FG vom 23.5.2012, 2 K 250/11, Haufe-Index 3699266).
Entscheidung
Die Revision der Klägerin blieb erfolglos. Der BFH führte aus, das Wahlrecht nach § 32d EStG sei zwar an keine Frist gebunden, nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids sei aber eine Änderung nur nach § 173 oder § 175 AO möglich.
Das nachträgliche Bekanntwerden der Kapitaleinkünfte der Klägerin führe zu einer niedrigeren Steuer, weil in die Betrachtung auch die anzurechnende Kapitalertragsteuer einzubeziehen sei.
Das FG sei zu Recht davon ausgegangen, dass als Rechtsgrundlage für eine Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO in Betracht komme, dass aber eine Änderung aufgrund des groben Verschuldens der Klägerin am nachträglichen Bekanntwerden der Kapitaleinkünfte ausgeschlossen sei. Da die Steuerbescheinigung bereits vor der Abgabe der Einkommensteuererklärung vorgelegen habe, hätte die Klägerin den mit der Erstellung der Einkommensteuererklärung beauftragten Steuerberater über die erzielten Kapitaleinkünfte unterrichten müssen. Sollte sie dies getan haben, wäre dessen schuldhafte Verletzung der Pflicht, dem FA diese Tatsache vor der Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung mitzuteilen, der Klägerin wie eigenes Verschulden zuzurechnen
Hinweis
1. Beim Antrag auf Günstigerprüfung (ein grauenhaftes Wortungetüm, aber wir müssen uns daran gewöhnen, denn es steht in vollem Ernst so im Gesetz!) handelt es sich um ein grundsätzlich unbefristetes Wahlrecht, das bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung ausgeübt werden kann. Aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 32d Abs. 6 EStG lässt sich keine Befristung entnehmen.
2. Aber: Die Segnungen des § 32d Abs. 6 EStG (die abgegolten besteuerten Kapitaleinkünfte werden den Einkünften i.S.d. § 2 EStG hinzugerechnet und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen, die bei "Kleinverdienern" niedriger sein kann als die Abgeltungsteuer) setzen voraus, dass der betreffende Steuerbescheid noch geändert werden kann. Eine zeitliche Begrenzung der Wahlrechtsausübung ergibt sich also aus der Bestandskraft.
3. Die Regelung des § 32d Abs. 6 EStG ist selbst keine Rechtsgrundlage für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung. Sie ist lediglich als gesetzliche Billigkeitsmaßnahme zu verstehen.
4. Als Rechtsgrundlage für eine Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung kommt in derartigen Fällen vor allem § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO in Betracht.
a) Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Dabei steht die erstmalige Ausübung eines nicht fristgebundenen steuerlichen Wahlrechts nach Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO grundsätzlich nicht entgegen.
b) Der nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Festsetzung gestellte Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG ist als Verfahrenshandlung kein...