Leitsatz
1. Eine Anrufungsauskunft gemäß § 42e EStG kann entsprechend § 207 Abs. 2 AO mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben oder geändert werden (Anschluss an Senatsurteil vom 02.09.2010 – VI R 3/09, BFHE 230, 500, BStBl II 2011, 233).
2. Die Aufhebung oder Änderung einer Anrufungsauskunft ist ermessensfehlerhaft, wenn das FA zu Unrecht von deren Rechtswidrigkeit ausgeht.
Normenkette
§ 118 Satz 1, § 207 Abs. 2 AO, § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, § 39b Abs. 3 Satz 9, § 42e EStG, § 40 Abs. 1, § 102, § 121 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin beantragte beim FA eine Anrufungsauskunft gemäß § 42e EStG. Sie bat um Bestätigung, dass Zahlungen aus einem sog. Langzeitvergütungsmodell (LTI–Modell) die Voraussetzungen einer Vergütung für eine mehrjährige Tätigkeit i.S.v. § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG erfüllten. Das LTI-Modell war wie folgt konzipiert:
Abhängig von der Entwicklung des durchschnittlichen Geschäftserfolgs abzüglich der Kapitalkosten innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren im Vergleich zu den vorangegangenen vier Jahren erhielten die betreffenden Beschäftigten nach Ablauf des sog. "Performancezeitraums" eine entsprechende Vergütung. Beispiel: Berechnungsbasis des LTI–Modells 2010 sind der Performancezeitraum 1.1.2010 bis 31.12.2013 sowie der Vergleichszeitraum 1.1.2006 bis 31.12.2009. Unterschreitet die Entwicklung des Geschäftserfolgs eine im Vorhinein festgelegte Grenze, erfolgen keinerlei Zahlungen aufgrund des LTI–Modells an die teilnehmenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die Klägerin vertrat die Auffassung, dass es sich bei den Zahlungen im Rahmen des LTI–Modells um Vergütungen für eine mehrjährige Tätigkeit handele, da sie für einen Tätigkeitszeitraum von vier Jahren geleistet würden. Deshalb habe die Berechnung der LSt unter Anwendung der "Fünftelregelung" zu erfolgen (§ 39 Abs. 3 Satz 9 EStG).
Mit Anrufungsauskunft vom 21.4.2011 bestätigte das FA die Rechtsauffassung der Klägerin.
Durch Bescheid vom 5.4.2017 hob das FA die vorgenannte Anrufungsauskunft sodann mit Wirkung für die Zukunft auf. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, bei den Zahlungen aufgrund des LTI–Modells handele es sich nicht um außerordentliche Einkünfte i.S.v. § 34 EStG. Es lägen vielmehr "Bonuszahlungen" vor, durch die in der Vergangenheit erbrachte Leistungen honoriert würden, deren Berechnung und Auszahlung jährlich erfolge. Der Widerruf der Anrufungsauskunft sei daher ermessensgerecht, da der Inhalt der Auskunft materiell-rechtlich unzutreffend gewesen sei.
Der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage gab das FG statt (Hessisches FG, Urteil vom 11.4.2019, 6 K 306/18, Haufe-Index 13385418, EFG 2019, 1557).
Entscheidung
Die Revision des FA hat der BFH aus den in den Praxis-Hinweisen ausgeführten Gründen zurückgewiesen.
Hinweis
1.§ 42e EStG enthält für die Aufhebung bzw. Änderung einer Anrufungsauskunft keine eigene Korrekturbestimmung. Das Fehlen einer solchen Korrekturvorschrift stellt eine Gesetzeslücke dar, die durch entsprechende Anwendung des § 207 Abs. 2 AO zu schließen ist (BFH, Urteil vom 2.9.2010, VI R 3/09, BFH/NV 2010, 2345).
2. Kann danach auch eine Anrufungsauskunft gemäß § 42e EStG entsprechend § 207 Abs. 2 AO für die Zukunft aufgehoben oder geändert werden, so bedeutet dies, dass die Aufhebung oder Änderung der Anrufungsauskunft in das Ermessen der Behörde ("kann") gestellt ist. Die Vorschrift macht die Entscheidung von sachgerechten Ermessenserwägungen der Behörde abhängig (§ 5 AO). Abzuwägen ist insbesondere, ob das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Einhaltung der Anrufungsauskunft größeres Gewicht hat als der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Finanzverwaltung, der die Durchsetzung des "richtigen Rechts" verlangt.
3. Die Aufhebung oder Änderung einer formell und materiell rechtmäßigen Anrufungsauskunft ist hiernach in der Regel unzulässig, wenn die Gründe für ihre Erteilung fortbestehen, der Steuerpflichtige sein Vertrauen bereits betätigt hat und über ein besonderes steuerliches Interesse an der Anrufungsauskunft verfügt. Anderes gilt nur, wenn die Aufhebung oder Änderung auf einem besonderen, sachgerechten Anlass gründet (BFH, Urteil vom 2.9.2009, I R 20/09, BFH/NV 2010, 391).
4. Ein solcher Anlass kann u.a. vorliegen, wenn sich die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung ändert. Da sich die gerichtliche Überprüfung einer Anrufungsauskunft nach der Rechtsprechung des Senats darauf beschränkt, ob die gegenwärtige rechtliche Einordnung des – zutreffend erfassten – zur Prüfung gestellten Sachverhalts in sich schlüssig und nicht evident rechtsfehlerhaft ist, kann ein Widerruf auch dann sachgerecht sein, wenn sich die allgemeine Verwaltungsauffassung zu der die Auskunft betreffenden Rechtsfrage ändert und die – gegebenenfalls auch von der Rechtsprechung abweichende – geänderte Rechtsauffassung ihren Niederschlag in allgemeinen Verwaltungsvorschriften oder die Finanzverwaltung bindenden Anwendungsschreiben (z.B. Schreiben des BMF oder Verfügung einer Oberfinanzdirektion) findet.
5. Ausgehend von diesen Grundsätzen ...