Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Einspruchsverfahren werden in entsprechender Anwendung des § 240 ZPO durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Einspruchsführers unterbrochen.
2. Die Regelungen über die Aufnahme eines Aktivprozesses gemäß § 85 InsO sind bezüglich der Aufnahme des Einspruchsverfahrens durch das FA nicht analog anwendbar.
3. Mangels gesetzlicher Regelung in der AO kann das FA ein Einspruchsverfahren, wenn die mit dem angefochtenen Bescheid festgesetzte Steuer bereits vor der Insolvenzeröffnung gezahlt wurde, erst nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens fortsetzen.
Normenkette
§ 239, § 240, § 249 Abs. 3 ZPO, § 85 InsO
Sachverhalt
Streitig war im vorliegenden Fall, ob das FA nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Steuerpflichtigen (Insolvenzschuldners) Einspruchsentscheidungen erlassen konnte.
Der Insolvenzschuldner erzielte als Arzt Einkünfte aus selbstständiger Arbeit. Nach einer Steuerfahndungsprüfung erließ das FA geänderte Einkommensteuerbescheide, die zu höheren Einkommensteuerfestsetzungen führten. Die Steuernachforderungen wurden vom Insolvenzschuldner vollständig beglichen. Gegen die Änderungsbescheide legte er – teilweise unzulässige – Einsprüche ein. Danach wurde das Insolvenzverfahren eröffnet.
Das FA forderte die Insolvenzverwalterin auf, mitzuteilen, ob sie die Einsprüche des Insolvenzschuldners gegen die Steuerfestsetzungen der Streitjahre aufrechterhalte. Andernfalls würde es nach einer Frist von einem Monat nach Aktenlage entscheiden. Die Insolvenzverwalterin teilte dem FA mit, dass sie die Einsprüche des Insolvenzschuldners aufrechterhalte. Das FA wies daraufhin die Einsprüche zurück.
Die Insolvenzverwalterin (Klägerin) erhob gegen die Einspruchsentscheidungen isolierte Anfechtungsklagen und stellte hilfsweise den Antrag auf Feststellung, dass die Einspruchsverfahren durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 240 ZPO analog unterbrochen worden seien. Das FG (FG Köln, Urteil vom 28.6.2016, 8 K 92/13, Haufe-Index 9712408, EFG 2016, 1676) gab der Klage statt.
Entscheidung
Der BFH gab der Revision des FA teilweise statt, soweit das FG die Einspruchsentscheidungen aufgehoben hatte, mit denen die unzulässigen Einsprüche des Insolvenzschuldners zurückgewiesen wurden. Soweit das FG der isolierten Anfechtungsklage gegen die Einspruchsentscheidungen stattgegeben hatte, denen ein zulässiger Einspruch zugrunde lag, wies der BFH die Revision des FA als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens waren isolierte Anfechtungsklagen gegen die Einspruchsentscheidungen des FA, da die Klägerin allein die Aufhebung der Einspruchsentscheidungen, nicht aber der Steuerbescheide begehrte. Ein berechtigtes Interesse lag vor, da die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift durch den Erlass der Einspruchsentscheidungen während des nach § 240 ZPOanalog unterbrochenen Einspruchsverfahrens geltend gemacht wurde.
2. Auch der Feststellungsantrag, dass die Einspruchsverfahren durch die Insolvenzeröffnung unterbrochen wurden, war zulässig. Der BFH war der Auffassung, dass allein durch die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidungen das Feststellungsinteresse der Klägerin nicht erfüllt wurde, da das FA die Unterbrechung der Einspruchsverfahren durch das Insolvenzverfahren ausdrücklich bestritt. Es bestand daher die (Wiederholungs-)Gefahr, dass das FA während der Unterbrechung des Verfahrens erneut über die Einsprüche entscheidet, sodass ein konkretes Feststellungsinteresse gegeben war.
3. Der vorliegende Fall zeigt einmal mehr die Problematik auf, die daraus folgt, dass die Auswirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf das Besteuerungsverfahren in der AO nur rudimentär (§ 251 Abs. 2 Satz 1, § 171 Abs. 2 AO) bzw. überhaupt nicht gesetzlich geregelt sind. So enthalten die Vorschriften der §§ 347ff. AO keine Regelung über die Unterbrechung des Einspruchsverfahrens im Fall der Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Einspruchsführers. Die Gesetzeslücke ist nach allgemein vertretener Auffassung in analoger Anwendung des § 240 ZPO zu schließen, der sich der BFH in der vorliegenden Entscheidung angeschlossen hat.
Dabei ist es unerheblich, ob es sich um ein Aktiv- oder um ein Passivverfahren handelt. Auch die vom FG erörterte Frage, ob das Einspruchsverfahren abstrakt geeignet wäre, im Falle der Verböserung durch die Einspruchsentscheidung zu einer Anmeldung der Steueransprüche zu führen, ist nach Auffassung des BFH für die Unterbrechung unerheblich.
4. Die Unterbrechung dauert nach § 240 ZPO analog solange fort, bis das Einspruchsverfahren nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird. Die AO selbst enthält keine Regelung über die Aufnahme des Einspruchsverfahrens durch das FA. Eine analoge Anwendung der Regelung des § 85 Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. § 239 Abs. 2 bis Abs. 4 ZPO hat der BFH für die Aufnahme des Einspruchsverfahrens durch das FA abgelehnt. Zwar handelt es sich bei den...