Leitsatz
Hat der Insolvenzverwalter dem Insolvenzschuldner eine gewerbliche Tätigkeit durch Freigabe aus dem Insolvenzbeschlag ermöglicht, fällt ein durch diese Tätigkeit erworbener USt-Vergütungsanspruch nicht in die Insolvenzmasse und kann vom FA mit vorinsolvenzlichen Steuerschulden verrechnet werden.
Normenkette
§ 226 Abs. 1 AO, § 387 BGB, § 35, § 94, § 96 Abs. 1, § 294, § 295 Abs. 2 InsO
Sachverhalt
Über das Vermögen des Klägers ist seit September 2003 ein Insolvenzverfahren anhängig. Steuerforderungen aus vorinsolvenzlicher Zeit sind offen. Der Kläger betreibt trotz des Verfahrens ein Einzelunternehmen, wobei der Insolvenzverwalter alle hierfür benötigten Aktiva und Passiva endgültig und bedingungslos aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben hat. Aufgrund eines hohen Vorsteuerabzugs ist ein USt-Vergütungsanspruch entstanden.
Gegen diesen Anspruch hat das FA seine Forderungen aufgerechnet und darüber den angefochtenen Abrechnungsbescheid erlassen. Die hiergegen erhobene Klage hat das FG abgewiesen (Thüringer FG, Urteil vom 10.04.2008, 1 K 757/07, Haufe-Index 2064889, EFG 2008, 1485).
Entscheidung
Der BFH hat die Wirksamkeit der Aufrechnung ebenfalls bejaht und den Abrechnungsbescheid demgemäß für rechtmäßig erklärt.
Hinweis
Aufrechnung verlangt bekanntlich Gegenseitigkeit von Hauptforderung und Gegenforderung. Fehlt es hier an derselben, weil das FA dem Kläger USt-Vergütung erst während des Insolvenzverfahrens schuldig geworden ist?
Solcher sog. Neuerwerb unterliegt grundsätzlich dem Insolvenzbeschlag. Gegen neu erworbene Forderungen des Schuldners können vorinsolvenzliche Gegenforderungen des FA, die Insolvenzforderungen sind, nicht verrechnet werden (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO).
Ist das anders, wenn solche Forderungen aus einer freigegebenen Tätigkeit des Schuldners stammen? Greift dann trotzdem – sinngemäß? – das Aufrechnungsverbot vorgenannter Vorschrift? Oder zerstört die Gegenseitigkeit, dass die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zur Folge hat, dass das Vermögen des Schuldners in zwei Teilmassen aufgeteilt wird – die Insolvenzmasse und das insolvenzfreie Vermögen –, die einem unterschiedlichen Rechtsregime unterworfen sind?
Letzteres hat der BFH verneint: Die InsO enthält spezielle Aufrechnungsverbote (vor allem in § 96 Abs. 1), aber kein – ungeschriebenes – allgemeines Verbot, Ansprüche der einen Masse gegen Forderungen, die in die andere fallen, zu verrechnen.
§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO hingegen erklärt eine Aufrechnung nur dann für unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist. Das ist bei Neuerwerb aufgrund Freigabe des Verwalters aber gerade nicht der Fall.
Einnahmen eines Schuldners aus selbstständiger Tätigkeit können auch nicht Bezügen aus einem Dienstverhältnis i.S.d. § 287 Abs. 2 S. 1 InsO gleichgestellt werden, sodass sie (in begrenztem Umfang) an den Verwalter als Treuhänder abgetreten werden müssten. Gem. § 295 Abs. 2 InsO muss ein selbstständig Tätiger lediglich von seinen Einnahmen etwas abführen, was dem entspricht, was er bei Aufnahme einer unselbstständigen Tätigkeit erlangen könnte. Der Schuldner wird hiervon nicht deshalb frei, weil er eine Einnahme infolge einer Aufrechnung des FA verliert. Diese Folge mag für ihn misslich sein, insbesondere weil er das Entstehen von Aufrechnungslagen gegenüber dem FA i.d.R. nicht durch entsprechende Gestaltung vermeiden kann; das Gesetz bietet aber keine Handhabe, ihn bzw. seine Schuldner davor zu bewahren.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 01.09.2010 – VII R 35/08