Leitsatz

Besteht für einen Vergütungsanspruch, den das FA für einen Besteuerungszeitraum nach Insolvenzeröffnung erstmals festsetzt, aufgrund der Rechtswidrigkeit dieser Steuerfestsetzung kein materieller Rechtsgrund, wird das FA diesen Vergütungsanspruch i.S. von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO erst mit der Festsetzung und damit erst nach der Insolvenzeröffnung zur Masse schuldig.

 

Normenkette

§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO, § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 UStG, § 226, § 218 AO

 

Sachverhalt

Das Amtsgericht A eröffnete 2010 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der X und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter. Das FA meldete offene USt-Forderungen aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens unbestritten zur Tabelle an.

Mit der USt-Erklärung 2013 machte der Kläger für X eine Steuerberichtigung nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 UStG geltend, die sich für vorinsolvenzrechtlich erbrachte Leistungen wegen Zahlungsunfähigkeit der Leistungsempfänger ergeben habe. Die Steuerberichtigung blieb im USt-Bescheid für das Jahr 2013 zunächst unberücksichtigt.

Dem Einspruch des Klägers half das FA ab, nachdem das Landesfinanzministerium und das Landesamt für Steuern das FA angewiesen hatten, die BFH-Rechtsprechung nicht im Steuerfestsetzungsverfahren, sondern nur im Erhebungsverfahren zu berücksichtigen. Entsprechend der Rechtsprechung des BFH sei erst im Erhebungsverfahren zu verfahren.

Die beklagte Landesfinanzkasse buchte das Guthaben aus der USt 2013 (unter der Steuernummer der Insolvenzmasse) auf eine Vorauszahlungsschuld USt Mai 2010 (unter der Steuernummer der X) um. Der Einspruch gegen den später ergangenen Abrechnungsbescheid blieb erfolglos.

Die Vorinstanz (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 28.1.2019, 5 K 2414/17, Haufe-Index 13391958, EFG 2019, 1702) wies die Klage ab. Es nahm an, das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO stehe der erklärten Aufrechnung nicht entgegen. Denn die Forderungen der X seien mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens rechtlich uneinbringlich geworden. Auf die formelle Steuerfestsetzung komme es nicht an.

 

Entscheidung

Der BFH hob die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung und den Abrechnungsbescheid auf.

 

Hinweis

Das Besprechungsurteil zeigt, welche Folgen Nichtanwendungserlasse der Finanzverwaltung im Festsetzungsverfahren für das Erhebungsverfahren haben können. Der "selektiven" Berufung der Finanzverwaltung auf höchstrichterliche Rechtsprechung hat der BFH jedenfalls im Streitfall einen Riegel vorgeschoben.

1. Das BMF hatte mit Schreiben vom 9.12.2011 S 7330/09/10001:001, BStBl I 2011, 1273, verfügt, dass die Grundsätze der BFH-Entscheidungen (BFH, Urteil vom 22.10.2009, V R 14/08, BFH/NV 2010, 773, BStBl II 2011, 988 und BFH, Urteil vom 9.12.2010, V R 22/10, BFH/NV 2011, 952, BStBl II 2011, 996) erst auf Insolvenzverfahren anzuwenden sind, die nach dem 31.12.2011 eröffnet wurden. Enthält dieser Satz ein Anwendungsverbot auf früher eröffnete Insolvenzverfahren? Aus Sicht des zuständigen Landesfinanzministeriums war dies der Fall, sodass das FA verwaltungsintern angewiesen wurde, dass es im Streitfall nicht davon ausgehen dürfe, dass Entgeltforderungen aus Lieferungen und sonstigen Leistungen spätestens im Augenblick der Insolvenzeröffnung (bzw. hier richtigerweise: mit Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters) in voller Höhe uneinbringlich werden. Das FA nahm daher 2017 die Berichtigung wegen Uneinbringlichkeit (§ 17 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 UStG) nolens volens nicht (in voller Höhe) für den Besteuerungszeitraum 2010, sondern (in geringerer Höhe) für den Besteuerungszeitraum 2013 vor.

2. Die bewusste Vornahme der Berichtigung in unzutreffender Höhe und in einem unzutreffenden Besteuerungszeitraum hat, wie der BFH entschieden hat, Folgewirkungen für das Erhebungsverfahren. Ein bereits früher (hier: 2010) uneinbringlich gewordenes Entgelt kann nicht später (hier: 2013) nochmals uneinbringlich werden. Jedenfalls für einen bewusst unzutreffend festgesetzten Steuervergütungsanspruch gibt es keinen materiellen Rechtsgrund. Deshalb wird das FA diesen Anspruch i.S.v. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO erst mit der Festsetzung (hier: 2017) zur Masse schuldig. Da dieser Zeitpunkt nach der (vorläufigen) Insolvenzeröffnung (2010) lag, war die beklagte Landesfinanzkasse nicht zur Aufrechnung berechtigt, obwohl sie bei richtiger Festsetzung zur Aufrechnung berechtigt gewesen wäre. Die Vertreter der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder müssen dies im Auge behalten, wenn sie ihren nachgeordneten Dienststellen verbieten, rechtmäßige Steuerfestsetzungen vorzunehmen.

3. Ansonsten bleibt festzustellen, dass in der Rechtsprechung des BFH vielfach die formelle Rechtsgrundtheorie auf Erstattungsansprüche angewendet wird (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 4.8.2020, VIII R 39/18, BFH/NV 2021, 49, BStBl II 2022, 98; BFH, Urteil vom 25.11.2020, II R 3/18, BFH/NV 2021, 820; BFH, Urteil vom 27.7.2021, V R 3/20, BFH/NV 2022, 164, BStBl II 2022, 155).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 22.6.2022 – XI R...

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