Leitsatz
Ficht der Steuerpflichtige verbundene Bescheide unter bloßer Wiedergabe der "Bescheidbezeichnung" an, ohne zunächst konkrete Einwendungen gegen einen bestimmten Verwaltungsakt zu erheben, können bei der Auslegung des Einspruchsbegehrens auch spätere Begründungen herangezogen werden.
Normenkette
§ 357 Abs. 3 AO, § 133 BGB
Sachverhalt
Der mit dem Einspruch angefochtene Steuerbescheid war mit einer Zinsfestsetzung verbunden, die in der Titelzeile des Bescheids nicht erwähnt war. Der Kläger legte unter wörtlicher Wiedergabe der Titelzeile und des Datums Einspruch ein. Deshalb war unklar, ob der Einspruch auch gegen die Zinsfestsetzung gerichtet war (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.1.2019, 3 K 3210/18, Haufe-Index 13029826, EFG 2019, 572).
Entscheidung
Auf die Revision des FA hat der BFH das stattgebende Zwischenurteil des FG aufgehoben. Das FG hat anerkannte Auslegungsgrundsätze verletzt, indem es davon ausgegangen ist, dass die nachträgliche Einspruchsbegründung bei der Auslegung des Einspruchs generell nicht zu berücksichtigen sei. Zwar lasse die Einspruchsbegründung nicht ohne Weiteres auf den ursprünglichen Willen schließen. Sie sei aber auch nicht von vornherein unbeachtlich.
Das FG und das FA müssen in solchen Fällen unter Berücksichtigung der nachträglichen Begründung anhand (weiterer) objektiver Umstände feststellen, worauf der ursprüngliche Wille gerichtet war. Der Streitfall enthielt dafür durchaus Anhaltspunkte, auf die der Senat in abschließenden, nicht bindenden Hinweisen aufmerksam macht.
Die Lösung des FG war einfacher und hätte wohl zu der eindeutigen Beratungsempfehlung führen müssen, den Einspruch stets erst nach Einlegung gesondert zu begründen. Die Lösung des BFH entspricht den (nicht nur im Steuerrecht) anerkannten Grundsätzen der Auslegung. Gefordert ist eine auf den Einzelfall bezogene, auf tatsächlichen Feststellungen beruhende Indizienwürdigung. Die ist komplizierter, aber jede schematische Lösung verbietet sich.
Hinweis
Häufig werden mehrere Verwaltungsakte miteinander verbunden. § 155 Abs. 3 Satz 2 AO sieht ausdrücklich vor, dass Steuerbescheide mit Verwaltungsakten über steuerliche Nebenleistungen verbunden werden können. Wird gegen verbundene Bescheide Einspruch eingelegt, ist unter Umständen nicht eindeutig erkennbar, welcher Bescheid oder welche Bescheide angefochten werden sollen. Im Zweifel muss darüber entschieden werden, zuerst vom FA, dann vom FG und in den Grenzen des Revisionsrechts ggf. auch noch vom BFH. Die Besprechungsentscheidung befasst sich mit den dabei zu beachtenden Rechtsfragen.
1. Nach § 357 Abs. 3 Satz 1 AOsoll der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den Einspruch eingelegt wird. Der Einspruch ist aber auch wirksam, wenn es an einer solchen Bezeichnung fehlt oder wenn sie unklar ist. Die Nichtbeachtung der Sollvorschrift bleibt grundsätzlich ohne Folgen.
2. Fehlt es an einer eindeutigen Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts, ist der Einspruch auszulegen. Dabei ist nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften, sondern es ist der wahre Wille zu erforschen (entsprechend § 133 BGB). Maßgeblich ist der Wille im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung. Bei der Auslegung können auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände berücksichtigt werden, und zwar auch solche, die erst nach Abgabe der Erklärung entstanden sind.
3. Welche Bedeutung hat in diesem Rahmen die erst nach Einlegung des Einspruchs nachgereichte Einspruchsbegründung? Der im Einspruchsschreiben nicht (oder nicht hinreichend) spezifizierte Einspruch richtet sich prima facie gegen alle verbundenen Verwaltungsakte. Ändert es dann etwas, wenn sich die Begründung nur noch gegen einen oder einzelne verbundene Verwaltungsakte richtet? Denkbar sind zunächst zwei Positionen:
a) Die nachgereichte Begründung ist bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen. Dann stellt sich die Frage, ob die Begründung die konkludente Rücknahme der nicht weiter verfolgten Einsprüche einschließt.
b) Die nachgereichte Begründung ist bei der Auslegung des Einspruchs zu berücksichtigen. Dann stellt sich die Frage, ob sie einen Schluss auf den ursprünglich (bei Einlegung des Einspruchs) vorhandenen Willen zulässt oder ob in ihr ein nachträglich geänderter Wille zum Ausdruck kommt.
4. Das FG hatte den ersten Weg gewählt und eine konkludente Rücknahme der nicht weiter begründeten Einsprüche abgelehnt. Es hat sich auf den Standpunkt gestellt, eine nachträgliche Einspruchsbegründung lasse in keinem Fall (sicher) auf den ursprünglich vorhandenen Willen schließen und sei deshalb bei der Auslegung (grundsätzlich) nicht zu berücksichtigen.
5. An das vom FG gefundene Auslegungsergebnis ist der BFH grundsätzlich gebunden. Die Auslegung gehört zur Tatsachenfeststellung und -würdigung, die dem FG obliegt. Unbeschränkt prüft der BFH lediglich, ob die Erklärung auslegungsfähig war. Im Übrigen darf er nur kontrollieren, ob die anerkannten Auslegungsregeln beachtet worden sind.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 29.10.2019 – IX R 4/19